Wie erzählt man ein Leben, das schon über 90 Jahre dauert? Beginnt man mit dem Weltkrieg, mit den Verdunkelungen bei Bomber-Überflügen und Rationierungsmarken? Setzt man Schicksalsschläge ins Zentrum? Oder das Positive?
Spannend ist alles. Hedy hat zuerst gezögert, als wir sie fragten, ob wir sie porträtieren dürfen. Dass sie nun bereit ist, verlangt Mut. Sie macht es, weil sie stellvertretend vielen betagten Menschen eine Stimme geben will, die von der Bildfläche des Lebens fast verschwunden sind. Deren Sorgen oft still und versteckt sind. Darum ist sie bereit, uns in ihrem Altersheimzimmer zu treffen. Und sie erzählt.
Der Landjäger kontrolliert, ob alle verdunkelt haben
Ja, der Weltkrieg. Hedy gehört zu den wenigen Zeitzeugen, die uns noch geblieben sind. Als Kind erlebt sie, wie man Wohnungen und Häuser verdunkeln muss, wenn alliierte Bomber Richtung Deutschland fliegen. «Der Landjäger kontrollierte per Velo. Wer nicht verdunkelte, erhielt eine Busse.» An das brummende Geräusch der Flugzeuge erinnert sie sich heute noch. Oder an den roten Himmel, als die deutschen Städte bombardiert werden. «Natürlich hatten wir Angst.»
Nach der Schulzeit macht Hedy eine Lehre als «Ladentochter», so heisst das damals. Später arbeitet sie eine Zeit lang als Kindermädchen, etwa in Engelberg. Bereits mit 19 Jahren verliert sie ihren Vater. Ihren späteren Mann lernt sie in Kloten beim Tanzen kennen. Nicht ungewöhnlich in einer noch durch und durch analogen Zeit. Sie gründet eine Familie und bekommt zwei Kinder.
Ihr Mann verliebt sich in eine andere Frau
Dann verliebt sich ihr Mann in eine Andere. Es kommt zur Scheidung. Damals eine grosse Sache und sehr schwer. Auch mit Scham behaftet. Am liebsten würde man es verschweigen. Danach die Zweifel: Ist es der richtige Schritt gewesen? Oder hätte man doch wieder zueinandergefunden? «Das waren keine schönen Jahre – alleine mit den Kindern. Und ich habe ja auch noch gearbeitet. Es war sehr anstrengend, allen gerecht zu werden», sagt sie rückblickend.
Immerhin bleiben ihr Ex-Mann und sie einander freundschaftlich verbunden. Viele Jahre später hätten sie sogar fast eine gemeinsame Anstellung angenommen. Als Hausmeisterpaar auf der Petersinsel auf dem Bielersee. Den Job übernimmt sie schliesslich alleine. Wie hat sie ihn bekommen? «Als wir uns das Haus ansahen, gab es eine riesige Berner Platte. So eine hatte ich noch nie gesehen». erzählt sie schmunzelnd. «Da habe ich halt richtig zugelangt. Und der Chef meinte: ‹Wer so essen kann, der kann auch gut arbeiten.›»
Einmal ist ein Nidwaldner Männerchor zu Gast. Und einer der Herren interessiert sich offenbar für sie. «Der ist immer in meiner Nähe herumgeschlichen», erzählt Hedy lachend. Sie findet in gestandenem Alter ihre zweite grosse Liebe, verlässt die Petersinsel, erhält in einem Stanser Altersheim eine neue Anstellung. Zu ihrem neuen Partner zieht sie aber erst einige Jahre später. «Es hat etwas gedauert, bis ich bereit war, meine Selbstständigkeit aufzugeben», sagt sie verschmitzt. Doch dann heiratet sie ein zweites Mal. Alles ist gut.
Und nochmals schlägt das Schicksal zu
Aber das Leben bietet selten bleibendes Glück. Ein Schicksalsschlag macht alles anders: Ihr Mann erkrankt an Lungenkrebs, entdeckt wird er erst, als er inoperabel ist. Hedy ist nun 60 und pflegt ihren 5 Jahre älteren Mann daheim. So muss sie ihm auch Morphiumtropfen gegen die Schmerzen geben und sich genau an die vorgeschriebene Dosierung halten. Hart bleiben, wenn er nach mehr verlangt.
Ihr Mann stirbt, Hedy zieht in eine kleinere Wohnung. Inzwischen ist sie pensioniert. Ihre Tochter lebt in der Nähe, mit ihr hat sie ein enges Verhältnis. Auch zu ihrem Sohn. Sie ist aktiv, etwa in Vereinen. Und sie gehört zu den Begründerinnen eines Altersheims im Ort. Ob sie schon gedacht hat, dass sie selber mal darin wohnen wird?
«Man gewöhnt sich nicht daran, wenn Menschen von uns gehen»
Viele Jahre ist das gar kein Thema. Doch 2018, mit 83, erleidet sie einen Herzinfarkt. An den Vorfall hat sie keine Erinnerung mehr. Man bringt sie ins Spital, später geht sie in eine Kur. Und von dort nicht mehr nach Hause. Allein leben wäre nun zu riskant. Sie kommt in das Alters- und Pflegeheim, das sie damals selber mitgegründet hat.
Heute ist ihre Welt klein geworden. Vor allem, wenn man bedenkt, wo sie früher überall gelebt und was sie alles gemacht hat. «Trotz schweren Zeiten hatte ich ein gutes Leben», sagt sie. Und auch heute ist sie zufrieden. Dass sie mit dem Rollator noch einigermassen mobil ist. Dass sie im Heim immer noch einige vertraute Mitbewohnende hat. Natürlich – viele andere sind gestorben. «Man gewöhnt sich nicht daran, wenn Menschen von uns gehen.» Oft präsent ist auch das Thema Demenz. «Es betrifft immer mehr. Da ist zum Beispiel eine tolle Frau, zu der ich früher schon einen wunderbaren Draht hatte. Heute erkennt sie mich nicht mehr.»
Sie mag Max Verstappen und John Wayne
Hedy passt sich ihren Möglichkeiten an. «Immer mehr lebe ich in meiner eigenen kleinen Welt.» Sie strickt gerne, und löst leidenschaftlich Kreuzworträtsel. Sie schaut Skirennen und Formel 1. Max Verstappen mag sie besonders. Und Filme im Fernsehen. «Vor allem Western mit John Wayne», lächelt sie.
Manchmal schaut ihre Tochter mit. Sie kommt regelmässig zu Besuch. Und was Hedy auch geniesst: Ab und zu in den nahen Laden zu gehen, «öppis ga chrömle», wie sie schmunzelnd sagt. Etwas Süsses vielleicht. Oder eine Zeitschrift. Oder ein Café trinken zu gehen.
Wie viele betagte Menschen, gerade solche, die länger in einem Heim leben, muss auch Hedy jeden Franken zweimal umdrehen. Eine unwürdige Situation nach einem so langen und aktiven Leben. Die LZ-Weihnachtsaktion hilft in vielen Fällen mit kleinen Beiträgen, dass solche Aufsteller und damit verbunden auch soziale Kontakte erleichtert werden. Hedy ist bereit, für alle diese Menschen öffentlich einzustehen.
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