Die Band Deep Purple war von den Nebelschwaden über dem Genfersee inspiriert, als sie ihrem Lied den Titel «Smoke on the Water» gaben. Hätten sich die Musiker vergangene Woche am Lac Léman aufgehalten, sie hätten das Feuer vor dem Rauch gesehen. Denn bei Nestlé kam es zum grossen Knall: Konzernchef Laurent Freixe musste gehen wegen einer internen Romanze, bei der er angeblich seiner Geliebten bei ihren Karrieresprüngen half und die Affäre danach vertuschen wollte (CH Media berichtete). Sein Nachfolger ist per sofort der 49-jährige Schweiz-Österreicher Philipp Navratil. Auf ihn warten grosse Aufgaben. Eine Übersicht.
Die angeschlagene Nestlé-Kultur
Beim in der Vergangenheit ruhig dahin tuckernden Tanker Nestlé sind derartige Turbulenzen ungewohnt. Firmenchefs wie Peter Brabeck und Paul Bulcke verdienten sich über Jahrzehnte hinweg ihre Sporen ab auf verschiedenen ranghohen Nestlé-Positionen, blieben nach ihrer Ernennung zum CEO viele Jahre an der Spitze und wechselten dann ins Präsidium. Als es 2016 darum ging, einen Nachfolger für Bulcke zu finden, gab es intern gleich mehrere potenzielle Anwärter – dazu gehörte auch Freixe.
Es kam zur ersten grossen Überraschung in jüngerer Vergangenheit: Die Wahl fiel auf den Deutsch-Amerikaner Mark Schneider – einen Externen, der zuvor den Gesundheitskonzern Fresenius erfolgreich führte. Die umgangene Mitfavoritin Wan Ling Martello verliess Nestlé in der Folge. Schneider blieb derweil in seinen Anfangsjahren bei Nestlé auf der Erfolgsspur und überzeugte die Analysten. Er kaufte Geschäfte hinzu, wie das Starbucks-Detailhandelsbusiness, stiess andere ab und sorgte am Hauptsitz in Vevey VD für mehr Flexibilität.
Doch dann tauchten je länger je mehr Baustellen auf, sei es bei der Gesundheitssparte, die mit Logistik-Problemen kämpfte, beim 2-Milliarden-Franken-Abschreiber auf ein Erdnuss-Allergiemittel, oder beim Mineralwasser, bei dem gepfuscht wurde. «Zu Beginn gab er seinen Leuten viel Freiheiten, doch am Schluss, als es bereits zu spät war, versuchte er zu viel an sich zu reissen», sagt ein Nestlé-Insider, der mit Schneider arbeitete, gegenüber CH Media. Die allgemeine Wirtschaftslage half Schneider ebenfalls nicht, die Aktie verlor stark an Wert. Und dennoch überraschte Bulckes Reaktion vor einem Jahr, als er Schneider vor die Tür stellte und Freixe Hals über Kopf zum CEO ernannte.
Und nun überrascht Bulcke mit der Ernennung von Navratil, ebenfalls per sofort. Der 49-Jährige ist zwar ein Nestlé-Eigengewächs, hat in mehreren Ländern in verschiedenen Funktionen gearbeitet, aber bisher keine grosse Marktzone wie Nord- oder Südamerika oder Europa geleitet. Dies schien bisher praktisch Pflicht zu sein, um als CEO überhaupt in Frage zu kommen. Navratil führte Nespresso mit einem Umsatz von zuletzt 6,3 Milliarden Franken. Und das erst seit einem Jahr. Erst seit Januar sitzt er in der Geschäftsleitung.
Dort gibt es ältere Geschäftsleitungsmitglieder mit deutlich grösseren Umsatzbrocken. Manche von ihnen dürften sich entsprechend düpiert fühlen. Fragt sich, ob sie an Bord bleiben, wenn nun ein relativ junger Chef ihre eigenen CEO-Avancen auf längere Zeit obsolet machen könnte. Ebenfalls ein Nachteil ist: Nespresso ist praktisch ein abgekapseltes Geschäft, das sehr eigenständig im Nespresso-Universum geführt wird. Das macht es für Navratil nicht einfacher, an allen Fronten mitzureden.
All diese Umwälzungen stellen die Frage nach der Nestlé-Kultur, die einst in Stein gemeisselt schien. Doch nicht zuletzt während Schneiders Ägide gab es viele personelle Wechsel, sowohl im Management als auch im Verwaltungsrat. Hinzu kommt der doppelte Chefwechsel innerhalb eines Jahres. Umso mehr wird Navratil gefordert sein, dass alle am selben Strick ziehen. Wohl auch deswegen sagte Bulcke bei der Bekanntgabe des Chefwechsels, Navratil überzeuge «mit seinem kooperativen und integrativen Führungsstil».
Eine Lame Duck als Präsident
Die überhastet wirkende Absetzung Schneiders, der peinliche Abgang von Freixe, die überraschende Ernennung Navratils und die miese Aktienkursentwicklung: All das muss sich Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke zuschreiben. Dem ruhig auftretenden Schweiz-Belgier, oft mit verschmitztem Lächeln, droht zum Ende seiner Nestlé-Karriere eine Bruchlandung. Der 70-Jährige hat bereits im Sommer angekündigt, im April 2026 abzutreten. Schon damals war seine Bilanz getrübt nach der Schneider-Freixe-Rochade. Doch nun ist Bulcke definitiv angezählt.
Dabei ist der CEO, vor allem ein so junger wie Navratil, besonders in unruhigen Zeiten auf eine starke Rückendeckung seines Firmenpräsidenten angewiesen. Doch dieser machte insbesondere in der Aufarbeitung von Freixes Romanze laut dem Finanzportal «Inside Paradeplatz» alles andere als eine gute Figur. Es sei vielmehr Bulckes designierter Nachfolger Pablos Isla gewesen, der die Zügel an die Hand genommen habe, um die selbst gesteckten Corporate-Governance-Regeln durchzusetzen.
Navratil wird sich also fragen müssen: Gehe ich bei wichtigen Themen zur Lame Duck Bulcke oder doch besser gleich zum künftigen Präsidenten Pablo Isla? Dessen Know-how fusst wiederum nicht auf Mayonnaise, Kaffeekapseln oder Schokolade, sondern auf Slips, Socken und Shirts. Denn der 61-jährige Spanier führte lange Zeit den spanischen Inditex-Konzern, bekannt für Kleiderketten wie Zara und Massimo Dutti. Er versteht also in erster Linie etwas von Fashion, aber weniger von Food als Bulcke, der Maggi stolz zu seinen Lieblingsmarken zählt.
Der neue XL-Kaffeekonkurrent
Gegen die internationale Kaffee-Dominanz von Nestlé schien für die Konkurrenz lange kein Kraut gewachsen. Mit den Nespresso-Kapseln hat der Konzern den Koffein-Heimkonsum revolutioniert, wie selbst Chefs von italienischen Traditionsmarken wie Lavazza und Illy anerkennen. Und in Sachen löslicher Kaffee macht Nestlé sowieso niemand etwas vor, wie diese Statistik zeigt: Jeder 7. getrunkene Kaffee auf der Welt stammt von Nescafé.
Doch nun droht Nestlé in seinem Kerngeschäft Ungemach. Der US-Konzern Keurig Dr Pepper will für 15 Milliarden Euro JDE Peet’s aus den Niederlanden übernehmen. Letzterem gehören Kaffee-Marken wie Jacobs, Douwe Egberts, Tassimo, Senseo sowie Peet’s. Ersterer besitzt vor allem Marken in den USA. Der Plan der Amerikaner: Mit JDE Peet’s wollen sie ihren Kaffee-Umsatz von 4,6 Milliarden auf 15,9 Milliarden Dollar per Ende 2026 verdreifachen. Nestlé läge bei diesem Szenario mit einem geschätzten Kaffeeumsatz von rund 22 Milliarden Dollar pro Jahr zwar noch immer in Führung. Doch der Abstand zum Verfolger würde deutlich kleiner. Derweil dürften die Kaffeepreise künftig weiterhin steigen.
Zuletzt hat Freixe Nescafé eine Verjüngungskur verpasst, unter anderem mit Partnerschaften mit dem Online-Zauberer Zach King. Zudem setzt Nestlé bei Nescafé stark auf den Cold-Coffee-Trend – damit man selber nicht bald kalter Kaffee wird.
Donald Trump und RFK Jr.
Die absolute Mehrheit seiner Produkte stellt Nestlé vor Ort in den jeweiligen Märkten her. Insofern ist der negative Effekt von Donald Trumps exorbitanten Zöllen für Navratil überschaubar. Dennoch werden auch sie Spuren in der Nestlé-Bilanz haben, nicht zuletzt beim Export der in der Schweiz hergestellten Nespresso-Kapseln.
Gefährlich könnte Navratil derweil das Gebaren von Trumps umstrittenen Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. werden. Seine «Make America Healthy»-Kampagne nimmt die Nahrungsmittelindustrie ins Visier. So wurden beispielsweise bereits Farbstoffe verboten. Und Trump selbst verkündete eine neue Cola-Rezeptur, bevor der US-Getränkeriese überhaupt etwas sagen konnte.
Gut möglich also, dass das Duo Trump-Kennedy auch Navratil plötzlich neue Regeln vorschreibt und ihm die Strategie in den USA diktiert. Zudem sorgt Trumps Wirtschaftspolitik für eine sinkende Stimmung bei den Konsumenten. Die Inflationssorgen nehmen wieder zu. Das ist Gift für die Supermarkt-Umsätze.
Der Aktienkurs
Vor einem Jahr fiel die Nestlé-Aktie auf einen Wert von 86 Franken und damit erstmals seit fünf Jahren wieder unter die 90-Franken-Grenze. Dies, nachdem die Halbjahresresultate mit Schneiders zu optimistischen Prognosen nicht hatten mithalten können. Jean-Philippe Bertschy, Analyst bei der Bank Vontobel, sprach von einer «kalten Dusche». Und bereits im Frühling schrieb Patrik Schwendimann, Analyst der Zürcher Kantonalbank (ZKB), dass die Investorenstimmung gegenüber Nestlé in den vergangenen 25 Jahren nie so schlecht gewesen sei.
Nur: Auch Bulckes verzweifelter Befreiungsschlag mit der Inthronisierung von Freixe funktionierte nicht. Zwar kletterte die Aktie diesen Frühling kurzzeitig wieder über 90 Franken. Doch danach ging es wieder bergab. Und wie. Ende Juli kostete der Titel gerade mal noch 71 Franken. Aktuell bewegt sie sich beim Wert von 75 Franken.
Nach dem neusten CEO-Tohuwabohu schien sich bei den schockierten Analysten Zweckoptimismus breitzumachen. So schrieb ZKB-Analyst Schwendimann: «Der CEO-Wechsel könnte zu lähmender Unsicherheit führen, in einem positiven Szenario jedoch die Rückkehr zu den Stärken von Nestlé beschleunigen.» Navratil sei auf den ersten Blick ein gut schweizerischer Kompromiss zwischen den beiden Vorgängern Mark Schneider und Laurent Freixe. «Mit Schneider sollte frischer Wind von aussen gebracht werden und mit Freixe sollte eine Rückkehr zu bewährten Nestlé-Rezepten gelingen. Philipp Navratil dürfte mehr frischen Wind von innen bringen.»
Und Vontobel-Analyst Bertschy spricht von einer bemerkenswerten Geschichte in der langen Firmengeschichte. Mit Nespresso-Chef Navratil setze Nestlé auf einen Leader der nächsten Generation. Er sei sehr direkt, ambitioniert und auf Resultate fokussiert. Zu seinen Top-Prioritäten werde gehören, Nestlé aus dem Zyklus der Negativ-Schlagzeilen herauszuholen.
What else?