Herr Beer, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie Bordesholm hören?
Gerade nichts.
Deutsche Landfrauen konnten 2024 keine Torten am Bordesholmer Weihnachtsmarkt verkaufen – wegen Hygienevorschriften der EU.
Genau! Ich hatte den Namen der Ortschaft nicht mehr im Kopf. Die Geschichte ist allerdings irrelevant im Zusammenhang mit dem neuen Lebensmittelabkommen. Es stimmt: Die Frauen durften die Torten nicht mehr verkaufen. Doch das hatte nichts mit den EU-Gesetzen zu tun, sondern mit übereifrigen Beamten, die ihren Spielraum nicht nutzten. Die Geschichte hält sich dennoch hartnäckig.
Sie steht aus Sicht der Gegner des neuen Abkommens für den Bürokratiewahn der EU. Dieses Jahr dürfen die Landfrauen ihre Torten verkaufen – nach einer Hygieneschulung.
Hygiene ist wichtig, aber für Kleinstanbieter wie Marktfrauen oder Vereine gelten in der Schweiz und der EU Erleichterungen, so dass man im Vollzug mit Augenmass vorgehen muss. Für Kleinstbetriebe, die regelmässig auf Wochenmärkte gehen, gelten auch weniger Dokumentationspflichten als etwa für einen Grossverteiler. Dies wird auch künftig so bleiben.
Die SVP warnt, dass künftig Freiwillige am 1.-August-Grillstand Schulungen machen müssen.
Das stimmt nicht. Für Betriebe, Märkte und Hofläden wird sich in der Praxis nichts ändern. Sie müssen schon heute grundsätzliche Hygiene-Regeln einhalten. Schon heute kann bei solchen Anlässen ein Lebensmittelkontrolleur vorbeischauen, die Kühltemperatur prüfen oder beanstanden, wenn eine Torte ungekühlt herumsteht. Diese Kontrollen haben aber nichts mit dem neuen Lebensmittelabkommen zu tun.
Magdalena Martullo-Blocher kritisiert, dass künftig gar die Feldküche in der Armee von der EU kontrolliert wird.
Das ist nicht korrekt. Im Lebensmittelgesetz gibt es seit einiger Zeit Vorgaben zum Vollzug des Lebensmittelrechts in der Armee. Nun soll besser geklärt werden, wer wo zuständig ist. Bei geheimen Einrichtungen kontrolliert die Armee selbst, in allen anderen Fällen die Kantone. Die EU wird keine Feldküchen kontrollieren.
Aber schon heute schickt die EU-Kontrolleure in die Schweiz?
Die EU kontrolliert keine Betriebe. Sie führt sogenannte Systemkontrollen durch – also Prüfungen, wie die Schweiz ihre eigenen Kontrollen organisiert. Ein EU-Beamter begleitet einen Schweizer Kontrolleur, schaut zu, stellt Fragen. Er ordnet aber nichts an. Diese Audits finden im Schnitt alle ein bis zwei Jahre statt und immer zu einem bestimmten Thema – etwa Milchhygiene oder Tiergesundheit. Solche Audits führen übrigens auch andere Länder durch, nicht nur die EU.
Welche?
Auch China und die USA schicken zum Beispiel regelmässig Kontrolleure in die Schweiz. Die Amerikaner kommen sogar häufiger als die EU-Kontrolleure. Im Gegensatz zur EU machen sie aber keine Systemkontrollen, sondern schauen sich exportierende Betriebe an. Wenn die EU ein Problem sieht, wird es dokumentiert und eine Lösung gesucht. China oder die USA sagen hingegen: Wir sperren diesen Betrieb. Er darf nicht in unser Land exportieren. Das ist in der Schweiz zwar noch nie vorgekommen. Doch diese Kontrollen sind für die Betriebe eine Belastung.
Und die EU kontrolliert die Schweiz mit und ohne neues Abkommen?
Ja, sie kontrolliert, ob die Systeme der Lebensmittelsicherheit funktionieren – bei uns, in anderen exportierenden Ländern und auch in den Mitgliedstaaten. Sie will sicher sein, dass nur sichere Produkte in die EU exportiert werden.
Mit dem neuen Lebensmittelabkommen übernehmen wir 61 Basisrechtsakte und 104 Änderungs- und Nachführungsakte. Das tönt nach viel.
Bei diesen 61 Rechtsakten geht es nicht nur um Lebensmittelsicherheit, sondern auch um das Veterinärwesen oder Pflanzenschutzmittel. Das tönt nach einer grossen Zahl. Doch wir übernehmen bereits heute das Lebensmittelrecht der EU. Etwa 90 Prozent sind deckungsgleich. So ist sichergestellt, dass der Gesundheitsschutz auf dem gleichen Niveau ist und dass Import und Export von Lebensmitteln reibungslos funktionieren.
Wieso braucht es das neue Lebensmittelabkommen, wenn wir heute schon die gleichen Regeln wie die EU haben?
Um die Bürokratie zu begrenzen und um die Lebensmittelsicherheit zu erhöhen. Das aktuelle Abkommen umfasst nur tierische Produkte, neu kommen auch die pflanzlichen hinzu. In diesem Bereich haben wir keine gegenseitige Anerkennung, das führt dazu, dass Schweizer Exporteure zusätzliche Zertifikate einholen müssen.
Zum Beispiel?
Nehmen wir Haselnüsse. Die EU kontrolliert, ob Haselnüsse mit Pflanzenschutzmitteln oder Pilztoxinen belastet sind. Ein Schweizer Schokoladeproduzent hatte eine Zeit lang Mühe, seine Produkte nach Italien zu exportieren. Denn er verwendete Haselnüsse aus der Türkei – und musste nachweisen, dass diese so sicher sind wie in der EU. Diese Bürokratie erschwert den Handel. Die Schweiz gilt heute als Drittland. Das zeigt sich auch bei den Gütern, die über den Hafen Rotterdam nach Europa kommen. Die EU-Zollbehörde kontrolliert alle Importe, ausser jene, die für die Schweiz bestimmt sind. Das müssen wir selbst tun. Mit dem neuen Abkommen gehören wir zum Lebensmittelraum der EU. Der Handel wird erleichtert, Bürokratie abgebaut.
Wenn Kontrollen in der Schweiz wegfallen, können Stellen gespart werden?
Wir werden die Stellen wohl umlagern. Denn wir können neu bei der Entscheidungsfindung in der EU unsere Ansicht einbringen, die Entscheide beeinflussen und in wichtigen Gremien Einsitz nehmen.
Was bringt das Abkommen den Konsumentinnen und Konsumenten?
Ein höheres Schutzniveau. Wir bekommen Zugriff auf das Schnellwarnsystem der EU – wenn irgendwo in Europa ein nicht sicheres Produkt auftaucht, erfahren wir das sofort und können reagieren. Wir erhalten zudem volle Einsicht in die Daten, zum Beispiel zum genauen Hergang der Kontamination, zu den betroffenen Chargen und so weiter. Dadurch können wir in der Schweiz viel gezielter kontrollieren und betroffene Produkte rascher aus dem Verkehr ziehen.
Die Schweiz hat im Bereich des Tierschutzes strengere Anforderungen an die EU. Werden diese Errungenschaften nun geopfert, damit die Lebensmittelbranche besser exportieren kann?
Nein, wir mussten keine Konzessionen machen: Die strengeren Anforderungen für Nutztiere sind ausgenommen. Geholfen hat, dass die EU das Tierschutzniveau ebenfalls anheben will.
Und wenn die EU neue Technologien zulässt wie die Gen-Schere, die sogenannte Crispr-Methode?
Die Gentechnologie ist politisch derart heikel, dass sie vom Abkommen ausgenommen worden ist. Die Schweiz wird selbst entscheiden, wie sie die Gen-Schere regelt.
Was passiert, wenn die EU In-Vitro-Fleisch erlaubt?
Diese Produkte fallen unter die sogenannte Novel-Food-Regelung. Die Anforderungen dafür sind in der Schweiz schon seit 2017 identisch mit denjenigen der EU. Neu ist nur, dass Gesuchsteller ihr Dossier direkt bei der EU einreichen. Dort sitzen die besten Fachleute, die genau dasselbe tun wie wir – nur mit mehr Händen.
Sie geben also freiwillig Macht nach Brüssel ab?
Es geht nicht um Macht, sondern um den Abbau von Doppelspurigkeiten. Wir bringen unser Wissen spezifisch dort ein, wo wir besonders gut sind.
Im Pflanzenschutz wird die Schweiz künftig ins EU-Zulassungssystem eingebunden. Die Bauern beklagen sich heute, dass die Zulassungen zu lange dauern. Wird die Schweiz nun schneller?
Die EU hat rund 2000 Experten, die die Dossiers prüfen. Wir sind in der Schweiz rund 50 Personen und dadurch schlicht zu langsam. Und vieles machen wir doppelt, weil wir keinen Zugriff auf EU-Daten haben. Die Integration in das EU-Zulassungssystem hat den Vorteil, dass wir schneller werden und die schweizerischen Verhältnisse bei den Bewertungen künftig mitberücksichtigt werden.
Nämlich?
Etwa der Regenfall oder die Kleinräumigkeit der Landwirtschaft. Diese Faktoren spielen eine Rolle für die Zulassung. Die nationale Zulassung erfolgt weiterhin in der Schweiz, das heisst, wir werden weiterhin Auflagen erlassen, zum Beispiel zum Gewässer- und Gesundheitsschutz
Was passiert, wenn ein EU-Wirkstoff zugelassen wird, den die Schweiz bisher aus Umweltgründen verboten hat?
Wirkstoffe werden EU-weit geprüft und genehmigt, das übernehmen wir schon heute. Aber jedes Pflanzenschutzmittel muss in der Schweiz eine eigene Zulassung haben, das bleibt so. Es wird kein Mittel erlaubt, das heute verboten ist. Wir werden auch in Zukunft Pflanzenschutzmittel nicht zulassen, wenn damit zum Beispiel der Gewässerschutz unterlaufen wird. Dänemark zeigt, dass das funktioniert. Es hat einen sehr starken Gewässerschutz und lässt deshalb Pflanzenschutzmittel nicht zu, die andere Länder erlauben. Die EU-Gesetze sehen das explizit vor.
Dann ist die Kritik der Wasserversorger am neuen System nicht gerechtfertigt?
Nein, der Gewässerschutz ist nicht wegen des neuen EU-Abkommens unter Druck, sondern innenpolitisch. Gesellschaft und Politik werden aushandeln müssen, welchen Stellenwert das Trinkwasser und die inländische Landwirtschaft haben. Oder etwas überspitzt gesagt: Will das Land künftig Schweizer Brokkoli oder sauberes Trinkwasser? Diese Güterabwägung hat nichts mit der EU zu tun.
Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
Das neue Vertragspaket mit der EU enthält verschiedene Elemente. Bei den institutionellen Fragen wie der dynamischen Rechtsübernahme geht es um die Stabilisierung der Beziehungen mit der EU. Daneben gibt es drei neue Abkommen, welche die Beziehungen weiterentwickeln. Dazu gehört das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit. Die Schweiz wird damit Teil des europäischen Lebensmittelsicherheitsraums. Zugleich verbessert das Abkommen den Marktzugang für Schweizer Produzenten in den EU-Binnenmarkt, erhält aber die Eigenständigkeit der Schweizer Agrarpolitik und bestehende Schutzmechanismen. Zwischen der Schweiz und der EU werden jährlich Agrarprodukte und Lebensmittel im Wert von über 16 Milliarden Schweizer Franken gehandelt. (dk)




