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Beziehung Schweiz-EU

Die Wirtschaft und die EU-Verträge: Dieser grosse Verband tanzt aus der Reihe

In dieser Form könne der Schweizerische Gewerbeverband dem EU-Vertragspaket nicht bedingungslos zustimmen, sagt Direktor Urs Furrer. Er warnt vor einer Zunahme der Bürokratie.
Will wissen, was es kostet: Urs Furrer, Direktor des Schweizerischen Gewerberverbandes.
Bild: Patrick Lüthy/Imago

Bei Economiesuisse sind die Mehrheitsverhältnisse erdrückend. Mit 69:1 stellte sich der Vorstand des Dachverbands der Schweizer Wirtschaft Anfang September hinter das neue Vertragspaket mit der EU. Die einzige oppositionelle Stimme stammte von SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, der Chefin der Ems-Chemie. Ende Oktober endet die Vernehmlassung zur umfangreichen Vorlage, mit welcher der Bundesrat den bilateralen Weg auf ein neues Fundament stellen will.

Auch der Vorstand des Arbeitgeberverbandes stimmt mit grosser Mehrheit für das Paket, wie er diese Woche mitteilte. Das «ausbalancierte» Paket schaffe Rechtssicherheit und Planbarkeit für die Unternehmen, ermögliche eine arbeitsmarktorientierte Steuerung der Zuwanderung und stabilisiere das Verhältnis zur wichtigsten Handelspartnerin der Schweiz.

Der dritte grosse Wirtschaftsverband des Landes, der Schweizerische Gewerbeverband, schart sich jedoch nicht hinter die Befürworter. Der Vorstand stehe den neuen EU-Verträgen kritisch gegenüber, teilte der Gewerbeverband am Freitagnachmittag mit. Auf Anfrage von CH Media präzisiert Direktor Urs Furrer: «In dieser Form können wir dem Vertragspaket nicht bedingungslos zustimmen.»

Skeptisch beurteilt Furrer vor allem die institutionellen Aspekte, namentlich die dynamische Rechtsübernahme in den Binnenmarktabkommen. Die Schweiz kann die Übernahme von EU-Recht zwar ablehnen. Doch in diesem Fall drohen sogenannte Ausgleichsmassnahmen durch die EU, wobei im Streitfall die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs bindend ist.

«Die institutionellen Regeln schwächen die demokratischen Einflussmöglichkeiten des Volks und der KMU», sagt Furrer. Er geht zudem von mehr Bürokratie für die Betriebe aus. «Es fehlt eine klare Abschätzung der Regulierungsfolgekosten», moniert Furrer. Der Gewerbeverband könne das Paket nur dann gutheissen, wenn bei der demokratischen Mitbestimmung und beim administrativen Aufwand Verbesserungen erzielt würden. «Denn nur so können die Interessen von Volk, Wirtschaft und insbesondere der KMU angemessen berücksichtigt werden.»

Präsident Regazzi plädiert für Ständemehr

Bereits Anfang Oktober öffentlich Stellung bezogen hat der KMU-Gewerbeverband des Kantons Luzern (KGL). Er argumentiert ähnlich wie der schweizerische Vorstand: «Marktzugang und Rechtssicherheit sind für die Schweizer Wirtschaft sehr wichtig, dürfen aber nicht zum Preis einer unverhältnismässigen Aushöhlung der Selbstbestimmung und eines überbordenden administrativen Aufwands für die KMU erkauft werden», sagt KGL-Direktor Jérôme Martinu.

In Stein gemeisselt ist die EU-skeptische Position aber nicht. Am 29. Oktober wird die Gewerbekammer die Vernehmlassungsantwort verabschieden. Das 100-köpfige Parlament des Gewerbeverbandes ist heterogen und besteht aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Berufsverbände mit unterschiedlichen Befindlichkeiten. Darin sitzen klare Befürworter wie der Neuenburger FDP-Nationalrat Damien Cottier, aber auch ablehnende SVP-Parlamentarier. Eine verlässliche Prognose zum Ausgang der Abstimmung zu machen, ist schwierig.

Will breite demokratische Abstützung: Fabio Regazzi.
Bild: Alessandro della Valle

Interessant ist die Rolle von Fabio Regazzi, dem Präsidenten des Gewerbeverbandes. Regazzi ist Mitte-Ständerat des Kantons Tessin. Seine Partei tut sich schwer mit dem EU-Dossier, wenn auch die internen Bruchlinien nicht so offen zutage treten wie bei der FDP. Welche Haltung nimmt Regazzi ein? Er unterstütze die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen grundsätzlich, aber jede neue Vereinbarung müsse die demokratische Mitwirkung sichern und die Belastung der KMU begrenzen, sagt er. Der Tessiner Ständerat plädiert im Gegensatz zum Bundesrat für das Ständemehr - «um die institutionellen Regeln und die teilweise Einschränkung der wirtschaftspolitischen Souveränität breit demokratisch abzustützen», wie er sagt.

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