Larissa Haas
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Hier eine Übersicht des Artikels in Bildern und Kurztexten:
Am Morgen nach Stéphane Breitwiesers Verhaftung im Mai 1997 schien die Sache erledigt. Zumindest aus Sicht der Luzerner Polizei. Der 25-jährige Elsässer war kurz zuvor von einem Galeristen und dessen Bruder beobachtet worden, wie er sich mit einem Stillleben des niederländischen Künstlers Willem van Aelst davon machte. Wohl einer dieser Gelegenheitsdiebe, welche die Polizei immer wieder mal erwischt. Tatsächlich beteuerte der Verhaftete, er habe zum ersten Mal etwas gestohlen und würde dies bestimmt nie wieder tun.
Doch es gab Ungereimtheiten. Allein schon die Gelassenheit, mit der er nach dem Diebstahl zum Auto spazierte, als hätte er gerade beim Bäcker ein Baguette gekauft, musste irritieren. In der Untersuchungshaft stellte sich denn auch heraus, dass Breitwieser wenige Stunden zuvor in einem Auktionshaus in Zofingen vier weitere Kunstdiebstähle begangen hatte. Kurze Zeit später kam er wieder frei, das Bundesamt für Ausländerfragen belegte ihn aber für ein Jahr mit einer Einreisesperre.
Was die Beamten zu jener Zeit aber noch nicht wussten: Stéphane Breitwieser war einer der meistgesuchten Verbrecher Europas. Zuhause hortete er nicht weniger als 239 Kunstobjekte aus sieben europäischen Staaten, darunter auch 16 Schweizer Kantonen. Geschätzter Gesamtwert seiner Beute: über 1,4 Milliarden Schweizer Franken. Seine Taten flogen erst Jahre später auf: 2001, als er für einen weiteren Diebstahl nach Luzern zurück kehrte. Doch davon später mehr.
Hier eine Übersicht zu den Kapiteln des Artikels:
US-Autor will die Geschichte nochmals aufrollen
Kunstdiebstahl kennen die meisten Menschen vor allem aus Filmen: in der Nacht durchs Fenster einsteigen, Objekt holen, abhauen. Auch Stéphane Breitweisers Vorgehen war filmreif, gerade weil es so unspektakulär war: Er kaufte sich immer ein Eintrittsticket, agierte gewaltlos, unbewaffnet und unmaskiert. Beispiellos war auch sein Tatmotiv: Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstdieben war er nicht daran interessiert, seine Beute für viel Geld zu verhökern. Bei ihm war es «reiner Beschützerinstinkt». So zumindest beschreibt es Michael Finkel. Der US-Journalist und Autor arbeitet zurzeit an einem Buch über die Geschichte des «erfolgreichsten Kunstdiebs der Welt». Gegen Ende 2020 soll das Buch veröffentlicht werden.
Der 50-Jährige Autor gehört mittlerweile zu den engsten Vertrauten des früheren Meisterdiebs Breitwieser. Er hat ihn über mehrere Monaten begleitet, unzählige Stunden mit ihm verbracht. Erstmals von ihm gehört hat Finkel Anfang des Jahrtausends, als die Titelseiten der Zeitungen voll waren mit Berichten über den «erfolgreichsten Kunstdieb der Welt». Finkel war fasziniert: Wie konnte dieser Mann über Jahre ungestört seine Taten begehen und zum meistgesuchten Kriminellen Europas mutieren? Woher kommen seine Raffinesse und sein Feingefühl? Und war ihm das Geld wirklich egal? «Ich wollte diesen Mann verstehen, sein Denken durchschauen», sagt Finkel und erinnert sich an den Brief, den er 2014 an Breitwieser schrieb: «Ich bin Journalist und möchte über Sie schreiben. Wollen wir uns zum Mittagessen treffen?» Eineinhalb Jahre später dann Breitwiesers Antwort: «Nein.» «Nur ein Mittagessen», habe Finkel geantwortet, und niemand würde von diesem Gespräch erfahren: kein Aufnahmegerät, keine Notizen.
Emotionales Wiedersehen mit dem geraubten Kunstwerk
Im Mai 2017 trafen sich die beiden zu einem Sandwich in Saverne im Elsass. «Ich versicherte ihm, dass er jederzeit abhauen könne, wenn es ihm zu blöd wird», erinnert sich Finkel. «Aber das Gespräch lief ziemlich gut.» So gut, dass dies der Anfang von rund drei Dutzend weiteren Begegnungen wurde: Sie verabredeten sich in Restaurants, in Cafés, dann besichtigten sie Kirchen, sie redeten, gingen spazieren, schrieben Briefe, besuchten Museen. Breitwieser sei ein «äusserst komplexer» Charakter, entsprechend zwiespältig sei auch das Verhältnis zu ihm: «Einerseits bin ich beeindruckt von dem, was er kann, andererseits ist gerade diese Fähigkeit total ekelerregend.» Finkel erinnert sich an einen Besuch in einem Museum in Antwerpen. «Dies ist der wundervollste Ort auf Erden», habe Breitwieser geagt. Dann tigerte er um die Objekte der Ausstellung, berührte jedes einzelne, strich über die Statuen, blieb abrupt vor einer Elfenbeinskulptur von Adam und Eva stehen und kniete auf den Boden. «Dann schossen ihm Tränen in die Augen, er stand auf, fing an zu heulen und rannte aus dem Museum. Ich hinterher», erinnert sich Finkel. Heute deutet er das Erlebnis so: «Breitwieser erlebte seinen totalen emotionalen Zusammenbruch, weil er plötzlich vor jener Skulptur stand, die er Jahre zuvor erfolgreich aus dem Museum gestohlen hatte. Damals war er ein ungeschlagener Mann, heroisch, hatte einen klaren Plan. Als wir gemeinsam dorthin zurückkehrten, war er eine verlorene Persönlichkeit.»
Er kannte die wichtigsten «Gebote des Stehlens»
Für Breitwieser war das Stehlen wie ein Handwerk – eines mit eigenen Regeln, die er im Laufe der Zeit perfektioniert hat. Zum Beispiel: Die Mittagszeit ist besonders günstig für einen «Museumsbesuch», weil das Personal dann Pause macht. Zudem achtete Breitwieser stets auf korrekte Kleidung, war freundlich zum Empfangspersonal, um keinen Verdacht zu erwecken. Und wie im Film galt es Notausgänge, Kameras und Sicherheitseinrichtungen zu checken. Knarrender Holzboden war für seine Zwecke zudem dienlich, da man nahende Schritte von weitem hörte. Als Michael Finkel mit Breitwieser im erwähnten Museum in Antwerpen war, konnte sich dieser haargenau an alle Details des früheren Diebstahls erinnern: Wie viele Menschen im Museum waren, wie lange er brauchte, um die Schrauben zu lösen. «Selbst die Zahl der Schraubenumdrehungen hatte er noch im Kopf», sagt Finkel. Breitwieser habe ihm erzählt, dass die Skulptur von Adam und Eva damals auf einer alten Kommode unter einer Plexiglaskuppel stand. Es habe nur eine Kamera im Raum gegeben und eine Wachperson, die neben ihm auf und ab marschierte. Das viel grössere Problem waren für ihn die vielen Touristen im Museum. Geduld war also gefragt. Nach rund zehn Minuten war die erste Schraube gelöst, die zweite brauchte etwa ebenso lang.
Sein Schlafzimmer war eine Schatzkammer
Inzwischen war die Wachperson schon zwei, drei Mal an ihm vorbeigegangen, ohne etwas zu merken. Breitwieser stand noch immer vor der Plexiglaskuppel und wartete, bis seine Freundin und Komplizin, Anne-Cathrine Kleinklauss, eine 25-jährige Krankenschwester, ihm zunickte. Dann steckte er die Skulptur in den Hosenbund, richtete die Jacke zurecht und bewegte sich locker aus dem Museum, vorbei an der Kasse, an den Sicherheitsleuten beim Eingang. Langsam und ohne hastige Bewegungen. Die Skulptur versteckte das junge Paar in seiner kleinen Wohnung im Dachgeschoss von Breitwiesers Elternhaus: ein geräumiges Wohnzimmer, Küche, Bad und ein Schlafzimmer hinter einer doppelt verriegelten Tür. Niemand durfte diesen Raum betreten, denn das, was sich dahinter befand, war für Breitwieser heilig: Da hingen prachtvolle Renaissance-Gemälde, Portraits, Landschaften, Stillleben, Allegorien. Es gab kunstvolle Kriegswaffen, oder seltene Musikinstrumente. Silberne Kelche, Vasen und Schalen. Eine Schnupftabakdose Napoleons, ein Gebetbuch aus dem 13. Jahrhundert. Bronzeminiaturen und goldüberzogene Teetassen. Atemberaubende Objekte aus Emaille, Marmor, Kupfer und Messing. Es war Breitwiesers eigenes kleines Universum auf etwa 12 Quadratmetern, das er liebevoll seine «Alibaba-Höhle» nannte.
Er pflegte seine Beute mit Seife und Zitronensaft
Die Skulptur von Adam und Eva war das nächste Objekt in seiner Sammlung, ihr geschätzter Wert: rund eine Million Franken. Breitwieser aber war pleite. Er hatte keinen Job, manchmal kellnerte er in einem Bistro in der Nähe, doch lieber verbrachte er seine Zeit in der Bibliothek. Während seine Freundin arbeitete, sammelte er alle Fakten, die er zu seinen Eroberungen finden konnte. Er wollte alles darüber wissen: Wer hat die Objekte geschaffen? Was sind ihre Besonderheiten? Welche Bedeutung haben sie? Am Abend kam er nach Hause, räkelte sich auf seinem überdachten Himmelbett inmitten seines Schlafzimmers, betrachtete seine Objekte, polierte sie mit Seife und Zitronensaft, strich ihnen behutsam über alle Wölbungen und Kerben und schwor sich, nie mehr mit dem Stehlen aufzuhören.
Breitwieser war 22 Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Objekt aus einem Museum stahl, eine spontane Aktion: ungeplant, geleitet von reinem Impuls. «Wie so die meisten seiner Taten», sagt Finkel. «Er hatte selten einen ausgeklügelten Plan.» Er stand damals vor einer schmucken antiken Pistole, die ihn an die Waffensammlung seines Vaters erinnerte, der Jahre zuvor von Zuhause ausgezogen war. «Ich spürte den unaufhaltbaren Drang, eine solche Pistole zu besitzen», wird Breitwieser später zu Protokoll geben. Ein kurzer Blick nach links und rechts: Es gab weder Wachpersonal noch ein Alarmsystem. Dann offenbarte er zum ersten Mal seine Diebstahlfantasien seiner Freundin. Ihre Reaktion, das hat Breitwieser später erzählt, sei für ihn der Beweis gewesen, dass die beiden füreinander bestimmt seien. «Mach schon», habe sie ihm zugeflüstert, «los».
Der Kanton Luzern hat es dem Meisterdieb besonders angetan
In den darauffolgenden sechs Jahren beging Breitwieser alle zwei Wochen einen neuen Diebstahl, einen Grossteil davon in Frankreich und der Schweiz. Allein im Kanton Luzern hat er innerhalb zweier Jahre vier Objekte gestohlen: Ein Gemälde aus Holz in der Schlachtkapelle in Sempach, eine Armbrust und eine Trinkschale im Historischen Museum Luzern sowie ein Ölgemälde aus der Galerie Fischer. Je mehr er stahl, desto besser wurde er: Er wusste mit Präzision den Blick der Überwachungskameras zu überlisten, sein Timing war nahezu perfekt, genauso wie die Kontrolle über seine Gestik, Mimik, Reflexe und Worte. «Breitwiesers Instinkt gleicht demjenigen eines Raubtiers», sagt Finkel. Körperlich sei er flink. «Wie eine Spinne. Er hat mir einmal vor meinen Augen meinen Laptop geklaut, ohne dass ich es merkte.» Hinzu komme seine erstaunliche Gelassenheit: «Jeder normale Mensch schwitzt und zittert, nachdem er etwas Verbotenes getan hat.» Und was macht Breitwieser? «Er setzt sich ins Museumscafé und trinkt einen Espresso. So reagiert doch kein normaler Mensch», so Finkels Fazit.
Die Freundin und Komplizin springt ab...
Breitwieser ging gegen die Dreissig zu, als sein Imperium langsam auseinander bröckelte. Seit seiner Festnahme in Luzern hatte Anne-Catherine Kleinklauss ein ungutes Gefühl. Sie plagte die Angst, dass die Fingerabdrücke, die damals aufgenommen wurden, ihm zum Verhängnis werden könnten. Er musste ihr versprechen, nie wieder nach Luzern zurückzukehren. Ohnehin hatte das alles plötzlich keinen Sinn mehr für sie: Das Leben hat doch mehr zu bieten, als diesen Haufen gestohlener Kram in den eigenen vier Wänden. Sie wollte Kinder, eine Familie. Aber sie wusste, dass ausgerechnet das, was sie mittlerweile so verabscheute, für ihren Liebsten essenziell war: Breitwieser fühlte sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er glaubte, er sei unbesiegbar. Er fühlte sich als Helden, der die Kunst vor der Grausamkeit der Welt zu beschützen vermochte. Und dafür war er bereit, alles aufzugeben: er hatte keinen Job, keine Freunde, keine Familie. «Er baute sich nach und nach sein eigenes geschlossenes Universum auf und niemand ausser Kleinklauss durfte daran teilhaben», sagt Michael Finkel. «Stehlen», das habe er ihm einmal anvertraut, «ist das einzige, das ich wirklich beherrsche.»
Trotz Warnung seiner Freundin kehrte er nach Luzern zurück
Dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit dürfte ihn an einem Sonntag im November 2001 erneut nach Luzern getrieben haben – trotz der Warnung seiner Freundin. Im Historischen Museum klaute er eine goldene Gedenkmünze mit Gravur: «Unseren gnädigen Herren verlobt das ganze Land Entlebuch», stand darauf. Und eine Woche später, am 18. November, entwendete er aus dem Richard-Wagner-Museum ein Harsthorn aus dem 16. Jahrhundert, das Jäger auf ihren Pferden benutzten, um miteinander zu kommunizieren. Wert: 100’000 Franken. Als Kleinklauss davon erfuhr, war sie empört: «Wir werden deine Fingerabdrücke entfernen», habe sie ihm gesagt. Die beiden fuhren noch am selben Tag abermals nach Luzern. Breitwieser wird später zu Protokoll geben, dass ihn seine Freundin anflehte, im Auto zu warten, während sie mit einer Flasche Alkohol und einem Taschentuch die Spuren im Wagner-Museum verwischen sollte. Er ignorierte allerdings ihre Anweisungen und spazierte am Ufer des Vierwaldstättersees entlang. Er trug einen mittellangen Mantel, Lackschuhe und hatte seinen Schreibblock dabei. Nach wenigen Minuten habe er seine Freundin mit hastigen Schritten entgegenkommen sehen. Sie sei fast gerannt, das war seltsam. Breitwieser verstand nicht. Sie wollten doch nie den Eindruck erwecken, vor jemanden flüchten zu wollen. Da muss etwas nicht stimmen, habe er gedacht. «Ich hatte den Eindruck, sie wolle mir etwas sagen, aber ich stand zu weit weg, um sie zu verstehen.» Dann habe er das Polizeiauto hinter ihm bemerkt, zwei Polizisten stiegen aus und nahmen in fest. Anne-Catherine Kleinklauss hat es geschafft, unbemerkt an ihm vorbeizugehen, ins Auto zu steigen und davonzufahren. Niemand ahnte, dass sie die Komplizin war.
Ein aufmerksamer Spaziergänger beim Wagner-Museum
Den 20. November 2001 verbrachte Stéphane Breitwieser im Gefängnis. Er hätte jetzt aufgeben können und sich eingestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich hätte von Anfang die Wahrheit sagen sollen. Aber er fand, er könne sich noch retten, indem er wie schon 1997 seine Taten erneut bestreitet: Er behauptete, nie ein Horn gestohlen zu haben. Die Polizisten zweifelten an der Wahrheit dieser Aussage, zumal die Zeugen im Zimmer nebenan das Gegenteil berichteten. Einem pensionierten Journalisten war beim Spazieren aufgefallen, wie ein Mann mit einem Mantel und Lackschuhen in seinem Schreibblock herum kritzelte. Weil er von seiner Freundin, der Kuratorin des Museums, erfahren hatte, dass am Tag zuvor etwas aus dem Museum entwendet worden war, verständigte er die Kassiererin. Diese hat Breitwieser sofort wiedererkannt – schliesslich hatte sie am Tag des Diebstahls lediglich drei Besucher im Haus. Breitwieser hätte auch jetzt wieder alles gestehen können. Aber er wollte um jeden Preis eine Hausdurchsuchung verhindern. Also blieb er stumm. Im Schlussbericht wird später stehen, dass er sich gegenüber den Polizisten «wenig kooperativ, aggressiv und launisch» verhalten habe.
Es vergingen Tage, Wochen, in denen Breitwieser ohne Kontakt zur Aussenwelt in seiner Gefängniszelle sass. Kein Wortwechsel, ausser mit den Wärtern, die ihn zur Dusche führten und das Essen servierten. Seine Sorgen wurden grösser: Hatten die Polizisten sein Schlafzimmer ausfindig gemacht? Was ist mit seinen Schätzen passiert? Anfang 2002 wurde Breitwieser ein weiteres Mal befragt.
Ein junger Luzerner Polizist brachte Breitwieser zum Reden
Es war der 17. Januar, kurz nach der Mittagspause. Polizist Roland Meier betrat den Verhörraum und legte ein Foto vor Breitwieser auf den Tisch. Roland Meier war jung, er hatte vor sieben Jahren die Polizeischule abgeschlossen, tüchtig und zielstrebig. Aber Breitwieser wird in seinen Memoiren später schreiben, Meier habe nicht ausgesehen wie einen Polizist. «Eher wie ein Langzeitstudent.» Dass ausgerechnet dieser Luzerner Polizist ihn schliesslich kapitulieren lassen würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. «Aber die Sachlage war offensichtlich», sagt Meier heute, der noch immer bei der Luzerner Polizei tätig ist. «Man musste nur Eins und Eins zusammenzählen.» Auf dem Foto, das Meier zeigte, war eine Originalaufnahme der gravierten Münze zu sehen, die Breitwieser im November in Luzern gestohlen hatte. «Haben Sie diese Münze gestohlen?», fragte Meier und Breitwieser verneinte. «Wir haben diese Münze in Frankreich sichergestellt. Haben Sie diese Münze gestohlen?», präzisierte Meier und Breitwieser verneinte erneut.
Erst die 68. Frage brachte ihn beim Verhör zu Fall
Und dann zeigte Meier ein weiteres Foto. Es zeigte dieselbe Münze, jedoch vergilbt und abgenutzt. Das Foto wurde Stunden zuvor aufgenommen, nachdem man das Objekt aus dem Rhein-Rhone-Kanal gefischt hatte. Dann zeigte Meier weitere Aufnahmen von beschädigten Objekten, die aus dem selben Kanal geborgen wurde: die goldene Schnupftabakdose, eine Elfenbeinflöte aus Dänemark, ein emaillierter Kelch aus Deutschland, Silberstücke aus Belgien und sogar eine Flinte, die Breitwieser vor acht Jahren in Frankreich entwendet hatte. Breitwieser realisierte, wie sein Kartenhaus aus Lügen auf einen Schlag zusammenbrach. «Es war die 68. Frage, mit der wir Breitwieser schliesslich zu Fall brachten», erinnert sich Meier und betont, dass er und seine Kollegen damals «schon sehr unter Druck» standen, um so schnell wie möglich Hinweise zu Breitwiesers Vorgehen zu finden: Nach stundenlanger Fleissarbeit, hunderten Telefonaten, Autofahrten nach Frankreich und monatlich rund 70 Überstunden wurde allmählich offensichtlich, dass Breitwieser derjenige sein musste, der im Besitz jener Objekte war, die im französischen Schiffskanal lagen. «Ich hatte anfänglich nicht gedacht, dass dieser Fall ein so irrsinniges Ausmass annimmt», sagt Roland Meier und lacht: «Danach machte ich mit meinen Überstunden grad sechs Wochen Ferien.»
Zweimal stand Breitwieser vor Gericht, zuerst in der Schweiz, dann in Frankreich. Er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Mit seinem Geständnis änderte sich auch schlagartig seinen Charakter: «Plötzlich begann er, mit uns zu kooperieren», erinnert sich Roland Meier. Jedes Objekt, das er gestohlen hatte, habe er besser als jeder Galerist gekannt. Bei der Gerichtsverhandlung habe er immer wieder die Aussagen von Experten korrigiert. «Er fertigte für uns detaillierte Skizzen und konnte haargenau erklären, wie, wo und wann er was gestohlen hatte», erzählt Meier. Mit seiner kooperativen Art und seinen klugen Antworten hatte Breitwieser das Bild des aggressiven, bedrohlichen Verbrechers widerlegt: «Was er und Kleinklauss während acht Jahren geleistet hatten, ist schlichtweg genial.»
Wer hat die Millionen-Schätze ins Wasser geworfen?
Wie die Kunstschätze allerdings ins Wasser gelangten, bleibt bis heute ein Rätsel. Polizeiberichten zufolge haben Breitwiesers Mutter und Kleinklauss nach Breitwiesers Verhaftung sämtliche Objekte, die er in seiner «Alibaba-Höhle» hortete, umgehend im Wasser versenkt. Die beiden kamen mit einer moderaten Strafe davon. Bei seiner Inhaftierung wurde Breitwieser zu einer verloreneren Persönlichkeit, war wie taub, stand unter Medikamenten. Sein Suizidrisiko sei als hoch eingeschätzt worden, sagt Finkel. «Es war aber nicht die Inhaftierung, die ihn zerstörte», so der Buchautor. «Sondern die Tatsache, dass ein Grossteil seiner Objekte beschädigt wurden.»
Im Jahr 2005 wurde Breitwieser aus dem Gefängnis entlassen. Doch sein neues Leben war leer: Das, was ihn über Jahre mit Glück erfüllte, war auf einen Schlag weg: Sein Schlafzimmer war kahl, er besass keine Bilder, hatte in sämtlichen Museen Hausverbot. Für eine Weile schnitt er Bäume, um etwas Geld zu verdienen. Dann lieferte er Pizzas aus, putzte Böden, kellnerte und verkaufte Schokolade im Europapark. Einmal hat er sich für einen Job als Museumswächter beworben. «Aber wahrscheinlich war er der einzige, der das keinen Witz fand», so Finkel.
Es gibt keinen letzten Diebstahl
Der Versuchung, Kunst zu stehlen, konnte Stéphane Breitwieser letztlich nicht widerstehen: Im Moment sitzt er wegen Folgetaten erneut im Gefängnis. «Für Breitwieser gibt es keinen letzten Diebstahl», sagt Finkel. «Auch wenn er verspricht, nie wieder zu stehlen, er wird es trotzdem tun.» Dem stimmt Roland Meier zu: «Ihm reicht das Geld einfach nicht, um sich seine grössten Wünsche zu erfüllen.» Das Stehlen sei für ihn wie eine Droge, eine Sucht, die ihn in einen Rauschzustand versetze. «Einem Drogenabhängigen kann auch keiner sagen: hör damit auf», sagt Finkel. «Das funktioniert einfach nicht.» Breitwieser bereue bis heute nichts von seinen Taten. «Das einzige, was er bereut, ist, dass er damals nach Luzern zurück gekehrt ist», so Michael Finkel.