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Uri

Vor 80 Jahren riss eine Lawine auf dem Urnerboden vier Menschen in den Tod – und machte ganze Familien obdachlos

Eine Staublawine verschüttete im Winter 1940 fünf Häuser. Kinder verloren ihre Geschwister – oder wurden zu Waisen.
Soldaten bei den Aufräumarbeiten nach dem Unglück. (Bild: Photopress/Staatsarchiv Luzern)
Die Todesanzeigen der verstorbenen Opfer. (Bilder: Staatsarchiv Uri)

Lucien Rahm

Lucien Rahm

Auch wenn seither acht Jahrzehnte vergangenen sind, beschäftigt das Unglück von 1940 die Betroffenen bis zum heutigen Tag. Eines der damals im Weiler wohnhaften Kinder lebt heute im Urner Talboden. Ein Gesprächstermin für diesen Artikel war mit dem Mann bereits vereinbart. Einen Tag davor entschied er sich jedoch um und sagte das Treffen ab:

«Ich habe gemerkt, dass mich das zu sehr belastet.»

Auch ein anderer noch lebender Geschwisterteil könne darüber nicht sprechen.

In mehreren Nachrufen auf Überlebende, die in den vergangenen Jahren verstorben sind, lässt sich ebenfalls erfahren, dass sie die Tragödie zeitlebens beschäftigt hat. So schreiben Hinterbliebe zum Tod ihres Vaters, der damals ebenfalls eines der Kinder im Weiler war: «Dieses Ereignis hat sich tief ins Herz unseres Vaters eingegraben. Detailgetreu konnte er uns erzählen, was in besagter Nacht alles vor sich ging. Auch mehr als 70 Jahre nach diesem Ereignis trieb es ihm noch Tränen in die Augen, wenn er davon erzählte.»

«Ein gewaltiges Brausen und Krachen»

Es ist jenes Ereignis, bei welchem die Bewohner im Weiler Hintere Hütten auf dem Urnerboden im Schlaf von einer Lawine überrascht wurden. Nachts um etwa Viertel vor elf kam die Staublawine von den Jegerstöcken herunter und erfasste fünf Häuser – drei davon bewohnt – und mehrere Ställe des Weilers. 14 Personen wurden verschüttet und teils schwer verletzt – einige überlebten das Unglück nicht.

Zeitungsberichte von damals schildern das Geschehen vom 12. Dezember 1940. «So um halb elf Uhr in der Nacht ertönte ein gewaltiges Brausen und Krachen», berichtete das «Urner Wochenblatt». Eines der erfassten Häuser bewohnte die neunköpfige Familie Schuler-Walker. «Vater Josef Schuler und seine Frau mit einem Kind konnten sich bald aus dem Schnee herausarbeiten und sich in das noch stehende Haus des Jakob Schuler retten, das notdürftigste Gewand anziehen und dann vereint um Hilfe rufen.»

Zu Fuss ging man anschliessend zum etwa 800 Meter weit entfernten Gasthaus Sonne, um dort Hilfe zu holen. «Bei dem hohen Schnee, bis an die Hüften versinkend, war das keine Kleinigkeit.» Fast acht Tage lang habe es zuvor beständig geschneit. Zwei bis zweieinhalb Meter Schnee seien gelegen.

Die nach und nach eintreffenden Helfer gruben die ganze Nacht lang nach den Verschütteten. Dabei konnten sie die meisten Personen retten. «Als die tapferen Männer nach den Verunglückten suchten, hörte man ein leises Beten. Es waren zwei Knaben, die den Rosenkranz gebetet hatten und in dem Augenblick mit dem Gebet zu Ende waren, als sie aus dem Schnee erlöst wurden.» Vier Personen waren jedoch tot, als man sie fand:

«Um 5 Uhr morgens hatte man drei tote Kinder des Josef Schuler geborgen.»

Sieben Kinder wurden zu Waisen

Katharina (8), Anton (7) und der erst sechs Monate alte Alois überlebten die Lawine nicht. Die verwitwete Katharina Müller-Gisler (50) – Mutter von sieben Kindern – kam ebenfalls ums Leben. Ihr Sohn Eduard erlitt schwere Verletzungen. Todesfälle musste die Familie Müller bereits zuvor verkraften. «Vor 12 Jahren verlor Frau Müller plötzlich ihren Gatten beim Heuen im Glarnerlande, und im letzten Frühjahr verunglückte ein guter Sohn in Wassen.»

Glück hatte die Familie Schuler-Arnold. Deren Vater Jakob befand sich in der Lawinennacht im Militärdienst an der Grenze. Mutter Emma jedoch hielt sich mit ihren sechs Kleinkindern zu Hause auf dem Urnerboden auf. «Wie durch ein Wunder trug der Luftdruck der Lawine eine Dachfläche eines andern Gebäudes vor das bewohnte Haus, das fast unbeschädigt blieb», lässt sich in den Glarner Neujahrsblättern von 1990 nachlesen.

Nachricht kam erst drei Tage später an die Öffentlichkeit

Weil die Lawine auch die Telefonleitungen zerstörte, konnte die Aussenwelt zunächst nicht über das Geschehnis informiert werden. Erst drei Tage später, am Sonntag, konnte die Nachricht ins Glarner Dorf Linthal überbracht werden. Je nach Quelle waren es entweder Skifahrer, welche sich mit der Neuigkeit nach Linthal begaben. Oder aber: «Drei Burschen hatten das Wagnis unternommen, trotz gewaltiger Schneemassen und Lawinengefahr nach Linthal hinunterzusteigen, wozu sie mehrere Stunden brauchten», wie es das Wochenblatt damals beschrieb.

Danach seien Soldaten an den Unglücksort geschickt worden. «Während sieben Tage haben ständig 20 bis 30 Mann gearbeitet, um aus dem Schnee herauszuholen, was möglich war. Betten, Möbel, Küchengeschirr ist alles wie verhackt.» Am Montag nach der tragischen Nacht wurden die Todesopfer beigesetzt. «Verwandten und Bekannten in Spiringen war es nicht möglich, auf den Urnerboden zu gelangen und daran teilzunehmen, da am Montag sowohl Strassen als auch Telefonverbindungen noch unterbrochen waren», hiess es damals. Für jene, die am Begräbnis teilnehmen konnten, war es ein ergreifendes Ereignis:

«Nicht manches Auge ist auf dem Friedhof trocken geblieben.»

Mehrere Familien verloren durch das Unglück nicht nur ihre Liebsten, sondern auch ihr Haus und teils mehrere ihrer Nutztiere. Bei anderen Familien auf dem Urnerboden fanden sie danach Unterschlupf. Der Berichterstatter des Urner Wochenblattes resümierte: «Diese Schreckensnacht werden wie nie mehr vergessen. Möge Gott uns inskünftig vor solchem Unglück bewahren.»

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