Der Zettel! Wenigstens war nicht alles verloren. «Alex, da beruhigst du mich aber unglaublich mit diesem verfluchten Fetzen Papier», sagte Sefa zum Jungen. Die Bibliothekarin plumpste auf den Sessel. Ihr Puls raste noch immer ob der Tatsache des gestohlenen Buches mit der Signatur UA 1009. Sie durfte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn auch der Zettel verschwunden gewesen wäre. All die Jahre hatte sie ihn versteckt behalten. Gehütet mit der nötigen Vorsicht, damit er nicht in falsche Hände geriet. Und jetzt war das Buch weg. Wenn es nur nicht bei … Sefas Herz stolperte vor Schreck.
«Schnell», meinte die Bibliothekarin und packte den Jungen an der Schulter, «wie hat diese Frau ausgesehen, die dir das Buch aus den Händen geschlagen hat? Hast du sie gekannt?» Alex wog den Kopf hin und her und rieb sich die Schulter. «Sorry, Sefa, weiss nicht mehr so genau. Braune halblange Kraushaare, weisse Hautfarbe, runde Nase, etwa 50, ca. 165 gross, mit grünen Augen. Sie roch nach Kamille und Rauch. Das fand ich voll eklig. Und vor allem war sie ziemlich flink, trotz ihres Alters.» Sefa musste trotz allem schmunzeln. So viel zu «nicht mehr so genau». Dem Jungen entging normalerweise nichts, nicht nur in den Büchern, die er reihenweise aufsog. Das machte ihn zu ihrem Lieblingsbibliotheksbesucher, auch wenn (oder gerade weil?) er mit seinen 11 Jahren langsam aufmüpfig wurde. Bald würde er richtige Krimis lesen wollen. Und nun steckte er vielleicht selbst in einem Abenteuer drin, ohne dass er es bereits erahnen konnte.
Sefa seufzte. Die grünäugige Räucher-Kamille gefiel ihr nicht. Konnte es sein? Nein, die braunen Haare passten nicht. Aber wenn … «Habe sie auf jeden Fall noch nie gesehen, weder hier in der Bibliothek noch sonst wo», resümierte Alex. «Aber sag jetzt, was soll das mit diesem Zettel? Ich verstehe den nicht. Ist das Rumänisch?» «Italienisch», korrigierte Sefa und seufzte. Ja, Italienisch. Sefa nickte langsam und schaute in die Ferne. Wie viel konnte sie dem Jungen sagen? Sie entschloss sich zur vollständigen Offenlegung der Informationen, vielleicht konnte ihr der Junge ja sogar behilflich sein. Doch wo beginnen?
«Sefa, der Zettel, was ist an dem so wichtig? Der sieht mega alt aus. Ist das Tinte, dieser braune Fleck dort unten? Und was sollen diese Kritzeleien da? He, Sefa?» Alex holte die Bibliothekarin aus ihren Grübeleien.
«Nun», setzte die Bibliothekarin an und kratzte sich leicht verärgert im Nacken, weil sie nicht wusste, wo beginnen, «das ist eine komplizierte und eigenartige Geschichte. Also. Was hier auf dem Zettel steht, nützt dir als solches noch nicht viel. Du wirst damit wohl nicht viel anfangen können. Es ist eine Notiz eines italienischen Ingenieurs, der beim Bau des Gotthardtunnels mitgearbeitet hat. Und dieser Ingenieur, sagen wir’s so, er war ein Bücherfreund». Sefa zögerte und kratzte sich nun am Kopf. «Er schreibt an seine Frau, kurz bevor … Nun, es ging um den Kauf eines Grundstücks in Altdorf.» Sefa schob sich ihre Brille zurück auf die Nase und fixierte den Jungen mit ihrem Blick.
«OK. Aber warum lag dieser Zettel im Buch, das mir die Frau aus den Händen geschlagen hatte?», wollte Alex wissen. Sefa öffnete den Mund, um Alex zu antworten, doch da ertönte aus dem Lesesaal eine laute Stimme.