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Luzern

Teiggi-Überbauung in Kriens: Der Versuch einer neuen Gesellschaft

Rund 250 Leute ziehen diesen Monat in die «Teiggi» in Kriens. Die Siedlung verspricht eine neue Wohnform – und den Ausbruch aus der städtischen Anonymität.
Die Teiggi-Überbauung gehört zu den innovativeren Wohnprojekten der Zentralschweiz. Auf dem Bild ist die 3 jährige Minna Frey zu sehen (Bilder: Dominik Wunderli, 22. August 2018)

Michi Grüter hat in der Siedlung eine Bierbrauerei aufgebaut. 
Petra Gerharz-Bezely hat in der Teiggi eine Polsterei namens Sitzwandel eröffnet. Hier polstert sie die Sitzfläche eines Hockers.
Blick in eine der 4-Zimmer-Wohnungen der Überbauung.
Sorgt mit ihren Vorhängen für erste Farbtupfer in der Siedlung: Teiggi-Bewohnerin Eva Roesch.

Rahel Lüönd

Rahel Lüönd

Rahel Lüönd

Rahel Lüönd

Rahel Lüönd

Ein Kieslader bringt Material für den Innenhof, ein Mädchen fährt mit dem Velo raus aus dem langen Gang, rechts und links gesäumt von langen Betonbauten. Es werden Gartentische zurechtgerückt, Pflanzen transportiert, Babys ausgefahren. Nach langer Zwischennutzung kehrt neues Leben ein in das Areal der ehemaligen Teigwarenfabrik in Kriens. Rund 250 Leute ziehen in diesen Tagen in die Teiggi, um hier zu wohnen, zu arbeiten – oder beides. Die wenigsten von ihnen sind zufällig hier.

Eine Frau mit kurzen grauen Haaren und Streifenshirt hat einen farbigen Vorhang an das noch karge Balkongeländer montiert. «Die Teiggi entspricht im Kleinen genau der Art und Weise, wie ich mir das Leben der Zukunft vorstelle», sagt Eva Roesch (66). Wie viele hier, will sie weg vom Alleingang, hin zu einer ökologischen und nachbarschaftlichen Gemeinschaft.

Alles vom Schreiner bis zum Büchercafé

In der Teiggi soll es alles geben, was die Menschen zum Leben brauchen. Im Gemeinschaftsraum realisiert eine Gruppe ein Konsumdepot, wo die Bewohner biologische Lebensmittel erhalten. Auch der Schreiner, der Coiffeur oder die Pizzeria gehören zur Siedlung. Michi Grüter ist mit seiner Brauwerkstatt eingezogen, Thomas Conzett eröffnet ein Büchercafé und hofft, den Spagat zwischen marktwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zielen zu schaffen.

Romain Kälin von der Energie Genossenschaft Schweiz ist für den Solarstrom der Siedlung zuständig, den unter anderem die eigene Photovoltaikanlage liefert. Er ist zudem Teil der Gemüsebaukooperative Randebandi, die mit einem Gemüseabo frische Kost an die Bewohner bringt. Getüftelt wird an noch weiteren Ideen: «Wir möchten mit einem grossen Kühlschrank Food Waste reduzieren, indem Früchte und Gemüse, die sonst im Müll landen würden, deponiert und gratis abgeholt werden können.»

Wenn dann die feenhafte Petra Gerharz-Bezely mit einem goldenen Hammer vor ihrem Atelier auf einen antiken Stuhl klopft, mutet das Ganze schon fast wie aus einer anderen Zeit an. Die Physiotherapeutin wagt es mit ihrer Polsterei Sitzwandel, ihr Hobby zum Beruf zu machen.

Weil auf zehn Köpfe nur ein Parkplatz kommt, sind die meisten mit dem Velo unterwegs. Auch Rahel Schmidiger, die gerade mit Tochter Minna (3) vorfährt. Die 35-Jährige ist mit ihrer Familie aus der Stadt hergezogen, weil die Siedlung kinderfreundlich ist und durch das Gewerbe eine spannende Mischung mit sich bringt. An die offene Lebensart muss sie sich noch gewöhnen. Die Aussenplätze im Laubengang sind nicht abgetrennt, durch die grossen Fensterfronten sieht man in die Stuben, ein bisschen vielleicht auch in das Leben der Menschen hier.

Harry van der Meijs ist Präsident der Baugenossenschaft Wohnwerk Luzern, welche das Projekt mithilfe der Finanzierung der Basler Stiftung Abendrot realisiert hat. Das Konzept überzeugte auch die Gemeinde Kriens, welche das Grundstück zum Verkauf gab. Die Wohnformen der Zukunft beschäftigen van der Meijs schon lange. 2010 reiste er durch halb Europa – Wien, Hamburg, Kopenhagen, Amsterdam, London, Barcelona, Tarifa – wo er sich Dutzende von alternativen Siedlungen anschaute und zum Schluss kam: «Das Patentrezept gibt’s nicht. Überall waren es einfach eine Handvoll Leute, die etwas Gutes schufen.»

Fast alle Wohnungen sind bereits vergeben

Für van der Meijs und sein Team war «gut» ein Platz, wo man gleichzeitig wohnen und arbeiten kann, wo alles Notwendige erhältlich ist, wo Generationen zusammenkommen. Der Erfolg gibt ihnen recht: Von 88 Einheiten sind zurzeit noch 8 verfügbar. In die Wohnungen (4,5 Zimmer ab 2000 Franken) sind übrigens nicht nur junge, hippe Städter eingezogen. Es wohnen hier auch ältere Menschen, welche die Teiggi dem Altersheim vorzogen.

Vorbilder für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung finden sich in der Schweiz einige. Beispiele mit ähnlichen Konzepten gibt es in Zürich (Kraftwerk 1, Kalkbreite), Basel (LeNa) oder Bern (Warmbächli). Doch was ist die neue Teiggi nun: die Wohnform von morgen oder doch eher eine aufgewärmte Hippiekommune? Harry van der Meijs lacht ob dieser Frage. In die Hippieschublade möchte er nicht gesteckt werden. «Wir schaffen lediglich Möglichkeiten, keinen Zwang», sagt er. Trotzdem ist er von dieser Zeit inspiriert und findet: «Eine Prise der 68er tut der heutigen Gesellschaft gut.»

Ob das Zusammenrücken in der Teiggi gelingt, wird sich nach den ersten Jahren zeigen. Vielleicht am Eichenparkett, der in der Siedlung verlegt wurde. Wie früher im Schiffbau üblich, wurde das Holz nicht geschliffen, sondern gebürstet. Den Boden müssen die Bewohner nun regelmässig seifen, damit der Parkett seinen Glanz erhält. Dafür braucht es zwei Dinge: Geduld und Pflege.

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