Meine kleine Enkelin verlor den Mut, als es ums Eingemachte ging. Zwar hatte sie sich wochenlang auf das grosse Ereignis gefreut, doch offensichtlich ebenso gefürchtet. Im entscheidenden Moment überwog die Angst vor dem Stechen der ersehnten Ohrlöchli. Folglich ging sie ohne die Zierde in den Läppchen wieder nach Hause. Vor nahezu fünf Jahrzenten waren bei meiner Mutprobe die Umstände ganz anders. Als Vierzehnjährige durfte und wollte ich mir den Bammel vor dem stechenden Schmerz nicht anmerken lassen. Zudem wurde der Ohrschmuck nicht in der Drogerie durch zwei Expertinnen und Spezialgerät gesetzt. Nein, es passierte an einem späten Weihnachtsabend am grossen Küchentisch. Denn mein weit gereister Bruder hatte mir zu Weihnachten orientalische Ohrringe geschenkt. Trotz der aussergewöhnlichen Umstände wollte ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Also desinfizierte er meine Ohrläppchen mit schmackhaftem Träsch und fragte mich, ob ich davon zur innerlichen Anwendung einen Schluck nehmen wolle. Dann stützte er die Flasche selbst grosszügig an, bevor er vom Hochprozentigen ermutigt zur Tat schritt.
Diese orientalischen Ohrringe erinnerten mich fortan an die spannenden Berichte, die uns der Bruder und seine spätere Frau während ihrer über ein Jahr dauernden Reise auf durchscheinendem Luftpostpapier gesandt hatten. Fasziniert wollte auch ich raus aus dem Engelbergertal, um selber etwas von fremden Ländern zu sehen. Das Fernweh hatte mich gepackt, ohne bereits hoffen zu dürfen, bald auf Reisen zu gehen.
Kaum noch flattern Neuigkeiten von Reisenden in Briefform ins Haus. Auf Whatsapp erscheinen hingegen fast stündlich neue Bilder über die Aufenthaltsorte von Bekannten. Die Lust auf Ferien sowie das Fernweh werden obendrein längst professionell mit moderneren Mitteln geschürt. Influencer werben auf Social Media für Traumstrände, strahlen glücklich in pittoresken Städtchen oder beim Genuss von landesüblichen Spezialitäten. Viele verdienen mit dieser «Arbeit» ihren Lebensunterhalt. Im Grunde ist diese Art des Broterwerbs ja nicht neu. Vor bald 200 Jahren schon verbuchte ein deutscher Fürst mit seinen abenteuerlichen Reiseerzählungen sowohl finanzielle als auch literarische Erfolge. Was zunächst als private Briefe an seine Expartnerin gedacht war, erkannte diese als geschäftliches Potenzial und liess die Texte veröffentlichen. Den Erlös hatte nicht nur sie bitter nötig, sondern ebenso der aristokratische, vom Bankrott bedrohte Lebemann und Autor. Vor allem erfand er in seinem literarischen Werk den Begriff «Fernweh». Damit überlieferte er der Reiseindustrie ein strategisches Werkzeug, das bis heute funktioniert.
Reisen sind heute meist weder abenteuerlich, noch braucht es Mut dazu. Das Fernweh wird oft risikolos durch Flugreisen mit durchorganisierten Aufenthalten von wenigen Tagen gestillt. Ich meinti, manchmal braucht es fast mehr Courage, zu sagen, dass man sich darauf freut, einige Ferientage in Lungern oder am Walensee zu verbringen. Aber den grösseren Schneid braucht es trotzdem noch immer für das Stechen der Ohrlöcher. Meine Enkelin wird es auch noch schaffen – ganz ohne Schnaps.
Ruth Koch-Niederberger, Kommunikationsfachfrau aus Kerns, äussert sich abwechselnd mit anderen Autorinnen und Autoren zu einem selbst gewählten Thema.
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