An unserer Kühlschranktür klebt seit vielen Jahren ein kleiner, bedruckter Papierschnipsel. Darauf steht in einem Dreizeiler: «Wohin sollte jeder einmal reisen? Ins Land der Langeweile. Nur dort entsteht Neues.» Wo genau ich dieses Zitat entdeckt habe, weiss ich nicht mehr. Auch kann ich heute den Urheber oder die Urheberin nicht mehr ausmachen. Ich weiss nur, dass es für mich ein Glücksfall war. Denn welche Eltern kennen ihn nicht, diesen Satz, den die Kinder an vermeintlich ereignislosen Tagen aussprechen: «Miär isch äs langweylig!» Fortan konnte ich mit einem Fingerzeig auf den Kühlschrank dem Gejammer entgegenhalten, dass Langeweile wirklich etwas Gutes an sich habe, zumal daraus kreative Ideen entstehen. Ich hatte ja nun einen schriftlichen Beleg dafür. Es hatte sogar in einer Zeitung gestanden.
Zwar wird Langeweile in der Psychologie als unangenehmer Gefühlszustand definiert, der in repetitiven, bedeutungslosen oder unterfordernden Situationen entstehen kann. Doch an einem einheitlichen Verständnis dieses Gefühlszustands scheiden sich die Geister. Dass Langeweile Positives an sich hat, beschrieb der im März verstorbene Peter Bichsel vielfach. Der Schriftsteller rühmte die Langeweile, weil sie ihm eben eine lange Weile schenkte. Lange Weile haben bedeute ferner, viel Zeit zu haben. Zeit, die das Leben lang mache, meinte er. Erst kürzlich bin ich auf eine Sammlung seiner Texte gestossen, die den verschiedenen Facetten der Langeweile gewidmet ist. Das Büchlein unter dem Titel «Die schöne Schwester Langeweile» war kurzweilig zu lesen. Obwohl seine Gedanken in den Zeiten der Sportler Ingemar Stenmark und Tony Rominger oder nach der Katastrophe in Tschernobyl niedergeschrieben wurden, bleibt doch eine frappante Aktualität. So fragt sich Bichsel, ob er sich langweilen dürfe, während Städte bombardiert und Menschen gefoltert werden oder Abertausende auf der Flucht sind und irgendwo verhungern.
Der scharfsinnige Beobachter Bichsel stellt in einem der Texte weiter fest, dass die Nachrichten den Menschen langweilen, wenn ein erschreckendes Ereignis nicht Tag für Tag weiter eskaliert. Ein aktuelles Beispiel, das diese These belegt, ist die akute Hungersnot im Sudan, welche seit letztem Jahr andauert. Es wird kaum mehr darüber berichtet. Wohl weil diese News keine Klickzahlen mehr generieren, sie nicht mehr gelesen werden. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis uns selbst die grauenvollen Nachrichten aus Gaza nicht mehr interessieren. Wann langweilen sie uns? Sicher ist es nicht nur der fehlende Nachrichtenwert, der uns davon abhält, die anhaltenden Schreckensnachrichten immer wieder zu lesen. Irgendwann sind die Berichte über Krieg, Vertreibung und Tod kaum mehr zu ertragen. Mir geht es jedenfalls so.
Was ich von Peter Bichsel gelernt habe? Langeweile ist zwar gut, sie ist aber auch gefährlich, weil uns die Hilferufe aus dieser Welt nicht mehr erreichen. Trotzdem: Das Zettelchen bleibt an unserer Kühlschranktür. Ich mag den Gedanken, dass sich die Dinge verändern können, sich hoffentlich zum Guten wenden.
Ruth Koch-Niederberger, Kommunikationsfachfrau aus Kerns, äussert sich abwechselnd mit anderen Autorinnen und Autoren zu einem selbst gewählten Thema.
Kommentare
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien, die Kommentare werden von uns moderiert.
Zu diesem Thema wurden noch keine Kommentare geschrieben.