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Kolumne

«Ich meinti»: «Ich liebe euch alle. Aber geht bitte kurz weg!»

Kolumnistin Carmen Kiser über Tagträume und die Arbeit in einer Vollzeitstelle.
Kolumnistin Carmen Kiser.
Bild: Zvg

Mein heutiger Morgen begann in Graubünden. Ich habe Murmeli beobachtet im Nationalpark, die Viamala Schlucht durchschritten und bin durch die Greina-Hochebene gewandert. Nur in Gedanken, natürlich, beim Stöbern in meinem neu erstandenen Wanderführer. Von meinem letzten Ausflug in den Buchladen habe ich ausserdem mitgebracht: «Tage mit mir» von Charlotte Wood und Virginia Woolfs «A Room of One’s Own». Erkennen Sie ein Muster? Ich schon.

Seit einigen Monaten arbeite ich Vollzeit. Für meine Familie und mich etwas Ungewohntes. Tagsüber stehen die Mitarbeitenden und Projekte im Fokus, abends die Familie und das Haus. Ich dachte, ich rocke das eigentlich ziemlich gut. Bis die Tagträume kamen.

Ich träume von einer Tür, die nur für mich aufgeht. Dahinter Stille. Kein Ping. Kein Meeting. Kein «Mama, kannst du noch…?». Ich träume von schroffen Felsen, Geröllhalden und weiten Ebenen, mit einer einzigen winzigen Person drin: Ich, die sich Schritt für Schritt vorwärtsbewegt. Ich träume von langen Sommertagen im Gartenstuhl, mit nichts als dem Wind und einem vereinzelten Vogelzwitschern, die meine Lesekonzentration stören. Ich träume vom Alleinsein. Denn was mir fehlt, sehr sogar, ist Raum und Zeit für mich und meine eigenen Bedürfnisse.

Und hier wird es schwierig. Ich weiss, wie man alles gleichzeitig macht. Partnerin, Mutter, Projektleiterin sein; Kalender durchtakten, Projektziele liefern, Familie körperlich und geistig ernähren. Und ich weiss, wie man dabei die eigenen Bedürfnisse elegant unter den Tisch fallen lässt. Es ist schliesslich immer was – nur selten ich. Und das, habe ich beschlossen, will ich ändern.

Nicht falsch verstehen: Ich liebe mein Leben. Ich mag das Wir, den Alltag, das Chaos, die Nähe. Ich will nur kurz verschwinden dürfen. Ohne Drama. Ohne Erklärung. Kurz raus aus der Dauerverfügbarkeit, rein in die Ruhe.

Ich meinti, auch (oder gerade?) working moms haben ein Recht auf Rückzug. Also schaffe ich mir meine Inseln. Ich richte mein eigenes «Räumchen» in unserem Zuhause ein. Kein Homeoffice, sondern ein Ort, wo das Platz findet, was ich gerne tue. Hier sind meine Yogamatte und meine Hanteln, meine Lieblingsbücher, Französischkurse, meine Geige, Schokolade, und an den Wänden Postkarten mit motivierenden Quotes, feministischen Kampfsprüchen und Menschen auf Surfboards. Es sieht ein bisschen aus wie mein Zimmer damals als Studentin, nur ästhetischer und aufgeräumter. Das war auch etwa die Zeit, zu der ich das letzte Mal ein Zimmer nur für mich hatte, da ich seither meinen Raum mit Mann, mit Kind, und oft mit beiden teile.

Und ich mache einen Plan für den Sommer, der Zeit allein in den Bergen beinhaltet. Werden in dieser Zeit viele Emails liegenbleiben? Klar. Ist meine Abwesenheit für meine Familie eine organisatorische Herausforderung? Sicher. Tue ich es trotzdem? Natürlich. Denn um weitergehen zu können im täglichen Wahnsinn, muss ich zuerst mal wieder ankommen. Bei mir.

Carmen Kiser, Museologin aus Sarnen, äussert sich abwechselnd mit anderen Autorinnen und Autoren zu einem selbst gewählten Thema.

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