Mehr als 300 Personen wurden in Uri zwischen 1905 und 1970 Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme. Weil sie nicht nach den geltenden Normen lebten, alkoholkrank oder arbeitslos waren, wurden sie teilweise in Erziehungsheime, Arbeitsanstalten oder ins Zuchthaus eingewiesen. Inzwischen sind rund 700 Fälle im Kanton Uri bekannt (wir berichteten).
Ein Forschungsteam der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat in den vergangenen drei Jahren im Auftrag des Historischen Vereins Uri das dunkle Kapitel der Urner Geschichte aufgearbeitet. Am vergangenen Freitag haben die beiden Forscherinnen, Nadja Ramsauer und Susanne Businger ihre Erkenntnisse im Historischen Museum Uri in Altdorf präsentiert. Die Studie wird nun im Historischen Neujahrsblatt Uri publiziert.
Männer waren in Uri stärker betroffen
Die nun doch relativ hohe Zahl der Fälle von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hat die beiden Forscherinnen überrascht. «Als wir mit unserer Recherche begonnen hatten, ging man davon aus, dass es im Kanton Uri nur wenige Anstaltseinweisungen gab», sagte Nadja Ramsauer am Freitagabend in Altdorf anlässlich der Buchvernissage. Da Uri aber selber keine eigene Anstalt für Erwachsene hatte, wurden viele Urnerinnen und Urner in die Arbeitserziehungsanstalt Kaltbach in Schwyz eingewiesen. Dort erwartete sie harte Arbeit und teilweise demütigende Behandlungen. Auch Missbräuche und Gewalt war in einigen Anstalten an der Tagesordnung.
«Die betroffenen Personen konnten sich in den meisten Fällen nicht gegen die Einweisungen wehren», sagte Nadja Ramsauer. «Das rechtliche Gehör wurde kaum gewährt.» Männer waren überdies weitaus häufiger von Zwangsmassnahmen betroffen als Frauen, sie machten rund 75 Prozent aller bekannten Fälle aus. Viele der betroffenen Männer waren nicht in der Lage, ihre Familien zu ernähren, sie galten als «arbeitsscheu» oder alkoholabhängig. Hilfsarbeiter, Knechte, Tagelöhner und Fabrikarbeiter waren besonders betroffen. Die Massnahmen waren aber gerade im von der Alp- und Landwirtschaft geprägten Kanton Uri oft auch konjunktur- und saisonabhängig. Frauen waren hingegen meist von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen, wenn sie als «liederlich» oder «unsittlich» galten. Unverheiratete Frauen mit Kindern hatten es dabei besonders schwer. Eine Einweisung dauerte in der Regel mehrere Monate.
Betroffene wurden von Gesellschaft stigmatisiert
Das Forschungsteam konnte im Rahmen des Projekts nur einen Teil der Akten im Staatsarchiv Uri und in den Gemeindearchiven auswerten. «Es gäbe noch viele weitere Aspekte zu untersuchen», sagte Ramsauer. Das Projektteam fand aber heraus, dass die Behörden jeder Gemeinde im Kanton Uri im 20. Jahrhundert Anstaltseinweisungen verordnet hatten. In den Gemeinden Silenen und Attinghausen waren die Fallzahlen gar überproportional hoch.
Zum Teil führten die beiden Forscherinnen auch Interviews mit betroffenen Personen, die noch leben. Leider hätten sich nur wenige Betroffene auf einen entsprechenden Aufruf in der Urner Presse gemeldet. «Wir spürten, dass die Betroffenen nach einem Aufenthalt in einer Zwangsanstalt in der Gesellschaft stigmatisiert worden waren und daher lieber darüber geschwiegen haben», sagte Nadja Ramsauer. «Viele leiden noch heute unter der Stigmatisierung oder wollen das Erlebte verdrängen.»
Tausend Kinder verbrachten Kindheit im Urner Kinderheim
«Arme und verwahrloste Kinder» wurden ab 1887 in das Kinderheim in Altdorf eingewiesen. Religiöse Rituale, ein strikter Tagesablauf, Blossstellungen und Bestrafungen prägten während Jahrzehnten den Alltag dieser Institution. Innert hundert Jahren verbrachten rund tausend Kinder einen Teil ihrer Kindheit im Kinderheim Uri. Über die Thematik der Verdingkinder fanden die beiden Forscherinnen in den Urner Archiven nur wenige Informationen. Die Vermutung liegt nahe, dass Kinder im Kanton Uri oft innerhalb der Verwandtschaft verdingt wurden – ohne Miteinbezug der örtlichen Armenpflege.
Matthias Halter, Präsident des Historischen Vereins Uri, führte zudem aus, wie es zur vorliegenden Forschungsarbeit kam. Der Landrat hatte es im Jahr 2017 abgelehnt, dass die Geschichte des Kantons Uri umfassend aufgearbeitet wird. Der Historische Verein entschied darauf hin, gezielt bestimmte Forschungsprojekte anzustossen und diese im «Historischen Neujahrsblatt» zu veröffentlichen. Die nun veröffentlichte Studie sei somit in diesem Zusammenhang der erste «Beitrag zur Urner Geschichte». Möglich wurde er dank der finanziellen Unterstützung des Kantons Uri, der Dätwyler-Stiftung und der Otto-Gamma-Stiftung.
Hinweis: Das «Historische Neujahrsblatt» kann im Historischen Museum Uri, bei der Gisler 1843 AG oder im «Bido» in Altdorf gekauft werden. Zudem kann man es unter www.hvu.ch online bestellen.
Kommentare
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien, die Kommentare werden von uns moderiert.
Zu diesem Thema wurden noch keine Kommentare geschrieben.