notifications
Luzern

«Ein welthistorischer Tag für den Frieden»: Vor 100 Jahren stand Luzern plötzlich im Fokus der Weltpolitik

Am 21.8.1920 trafen die Premierminister von Grossbritannien und Italien in Luzern ein. Hier wollten sie ihre Pläne für dauerhaften Frieden in Europa diskutieren. Über die weltpolitische Bedeutung dieses Gipfeltreffens gehen die Meinungen allerdings auseinander.
Gipfeltreffen in Luzern, im August 1920: Der italienische Ministerpräsident Giovanni Giolitti (vorne links) und der britische Premier David Lloyd George (vorne rechts). Im Hintergrund sind Giolittis Berater und Dolmetscher Agostino Mattoli (links) und der britische Kriegskabinett-Sekretär Maurice Hamkey zu sehen. (Bild: De Agostini / Biblioteca Ambrosi)
Friedenskonferenz von Versailles 1919 (von links): Der britische Premier David Lloyd George, der italienische Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson.  (Quelle: Wikipedia)
Die Villa Haslihorn in St. Niklausen. (Quelle: Facebook)
Polnische Soldaten in einem Schützengraben bei Warschau im August 1920. (Quelle: Wikipedia)

Robert Knobel

Robert Knobel

Robert Knobel

Robert Knobel

Das «Luzerner Tagblatt» vom 23.8.1920 überschlug sich fast von Superlativen: Ein «welthistorischer Tag» habe sich in Luzern ereignet. Von einer «Wendung in der europäischen Lage» war die Rede und von einem «flehentlichen Appell an alle Völker der Erde, den Hader und die Zwietracht doch endlich einmal aufzugeben.»

Was war geschehen? Am 21.8.1920 trafen der britische Premierminister David Lloyd George und sein italienischer Amtskollege Giovanni Giolitti im Luzerner Bahnhof ein, begrüsst von grossen Menschenmassen sowie Stadt- und Regierungsrat.

Ihre Ankunft erfolgte mit grosser Verspätung, wie das Tagblatt vermerkte. Grund war eine Zugsstörung am Gotthard, wodurch der Sonderzug der beiden Spitzenpolitiker über den Simplon umgeleitet werden musste. Offiziell sollten sich die beiden Staatsmänner zu einem privaten, ungezwungenen Austausch in Luzern treffen. Die Konkurrenzzeitungen «Vaterland» und «LNN» berichteten denn auch relativ kühl und nüchtern über das Gipfeltreffen. Sie glaubten den offiziellen Verlautbarungen, dass das Treffen rein informeller Natur sei.

Für das liberale «Tagblatt» hingegen war klar, dass hier in Luzern gerade Geschichte geschrieben wurde.

Bei dieser Einschätzung berief man sich nicht zuletzt auf extra angereiste Journalisten der Londoner «Times». Dass es in Luzern durchaus um Weltpolitik gehen musste, zeigt ein Blick auf die aktuelle geopolitische Lage. Wenige Monate zuvor hatten die europäischen Mächte den denkwürdigen Versailler Friedensvertrag unterzeichnet.

Damit sollte die Welt nach den verheerenden Verwüstungen des Ersten Weltkriegs endlich zu Ruhe und Frieden finden. Doch von wirklichem Frieden war man trotz allseitiger Beteuerungen noch immer weit entfernt. Allerdings war es 1920 nicht etwa Deutschland, das die europäische Stabilität gefährdete, sondern das sowjetische Russland.

Der Versailler Vertrag sicherte unter anderem den Polen einen unabhängigen Staat zu. Doch die aggressive Machtpolitik der Russen stellte die polnische Souveränität zunehmend in Frage. Insbesondere Frankreich forderte deshalb, gegenüber Russland einen harten Kurs zu verfolgen. Grossbritannien und Italien hingegen hofften, dass sich der Westen und Russland mit gegenseitigen Kompromissen irgendwann finden würden.

Das Treffen in Luzern diente daher zunächst einmal dazu, die enge Allianz von England und Italien öffentlich zu demonstrieren.

Nach der Ankunft in Luzern folgten zwei Tage intensiver Gespräche in der Villa Haslihorn in St. Niklausen sowie im Hotel National. Da beide Politiker die Sprache des anderen nicht verstanden, mussten die Gespräche von Dolmetschern begleitet werden.

Offizielle Entscheide wurden in Luzern keine gefällt – das hätten die abwesenden alliierten Franzosen auch gar nicht goutiert. Die französische Presse verfolgte denn auch das Tête-à-tête der beiden Staatsmänner aus London und Rom mit grossem Argwohn. Wohl aber wurde am Ende des Treffens eine Art «Luzerner Manifest», wie es das Tagblatt nannte, veröffentlicht. In dem auf Englisch verfassten Dokument zeigen sich die beiden Länder.

«In vollkommener Übereinstimmung, dass die Wiederherstellung des Weltfriedens eine absolute und dringendste Notwendigkeit ist.»

Der Schlüssel zum Frieden liege dabei in Russland, so die beiden Politiker. Wirkliche Vorschläge für tragfähige Kompromisse mit den Bolschewiken präsentieren sie allerdings nicht. Vielmehr bekräftigen sie die westliche Haltung, dass man die russische Regierung vorläufig nicht offiziell anerkennen könne – jedenfalls nicht so lange die Russen ihre Pläne für den Aufbau einer «Roten Arbeiterarmee» in Polen nicht fallen lassen.

Wenige Tage nach der Luzerner Konferenz wendete sich das Blatt tatsächlich zu polnischen Gunsten, auch ohne das Zutun von George und Giolitti. In der Schlacht von Warschau wurden die Russen zurückgedrängt, die Souveränität Polens war nun für fast 20 Jahre gesichert.

Das Ende dieses Friedens leitete dann bekanntlich die weiteren grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ein: 1939 verlor Polen seine Souveränität durch den deutschen Überfall und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nach dessen Ende konnten die Sowjets ihre Pläne von 1920 dann doch noch realisieren und Polen in einen kommunistischen Staat von russischen Gnaden umwandeln. Damit sollte sich auch die Prophezeiung von Giovanni Giolitti nicht bewahrheiten, als er am 24.8.1920 von Luzern nach Bern fuhr, um Bundespräsident Giuseppe Motta zu treffen. Das «Tagblatt» zitierte ihn wie folgt:

«Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass der Bolschewismus bald ausgewirtschaftet haben wird.»

Als Begründung nannte Giolitti, dass die Kommunisten in Wahrheit gar nicht nach Fortschritt strebten, sondern schlicht nach Barbarei. Und dies könne auf Dauer nicht funktionieren.

Kommentare (0)