Noch 100 Meter. «Nino, Nino» hallt es von überall. Die Stimme des Speakers überschlägt sich. Nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag. Noch 50 Meter. Nino Schurter breitet die Hände aus. Ein Lachen im Gesicht. Und vom steilen Hang, wo die Fans Seite an Seite stehen: «Nino, Nino.» Noch zehn Meter. Die letzten zehn Meter in dieser einzigartigen Karriere. Schurter hebt die Faust in die Höhe. Die Lenzerheide ist an diesem Sonntagnachmittag ein Tollhaus.
Hier, quasi vor der eigenen Haustür, feierte Schurter zwei seiner grössten Erfolge. 2018 holte er am Fusse des Rothorns WM-Gold. Fünf Jahre später holte der Bündner in seiner Heimat den 34. Weltcupsieg und übertraf damit die bis dahin bestehende Rekordmarke von Julien Absalon. Rekorde – es gibt so viele von ihnen in Schurters Karriere. Zehn WM-Titel, neun Siege im Gesamtweltcup. Es sind Bestmarken, die so schnell kaum übertroffen werden dürften.
Niemals weisse Farbe – sie ist zu schwer
2009 hatte Schurter in Australien seinen ersten WM-Titel errungen. Die Welt war damals noch eine andere. Barack Obama wurde in den USA als Präsident vereidigt. Der HC Davos gewann den Play-off-Final gegen Kloten in sieben Spielen. Lady Gaga landete mit «Pokerface» den Musikhit des Jahres. Auch der Mountainbikesport war 2009 ein anderer. Die Sportart hat sich bis heute rasend entwickelt – und mit ihr Schurter.
Es gibt nicht manche Athleten, die in ihrer Sportart über 16 Jahre stets an der Weltspitze mitmischten und sie phasenweise gar dominierten. Roger Federer war ein solcher. Schwimmstar Michael Phelps. Tennisikone Serena Williams. In diesen Sphären bewegt sich Schurter. Sein Trainer sagte einst, für Schurter sei das Wort «Perfektionismus» erfunden worden. Er galt in der Szene als Tüftler. Immer versucht, in jedem Detail das Maximum herauszuholen.
An den Olympischen Spielen in Paris verriet Schurter im vergangenen Sommer, weshalb am Rahmen seines Bikes kaum Farbe aufgetragen ist: Diese macht das Velo zusätzlich schwer. Speziell die Farbe weiss, da diese mehrmals aufgetragen werden muss, damit die Grundfarbe nicht durchdrückt. Dies könne rasch einmal 200 Gramm ausmachen, so Schurter, in dessen Olympiabike ausserdem acht Batterien steckten. Ein System mass ständig, wie stark der Fahrer in die Pedale trat und wie das Bike stand. Bis zu 1300 Mal passte es dann automatisch den Federweg an.
Akribie und Gelassenheit
Zeitweise hatte Schurter das Bild eines Unantastbaren, im Jahr 2017 gewann er jedes Rennen. Er hatte die Gabe, auf den Punkt genau bereit zu sein. Dafür ordnete er jeweils alles unter. «Geht es um den Sport, kennt er keine Kompromisse», sagte einst sein langjähriger Manager Giusep Fry.
Schurter scheute dafür nie einen Aufwand. In den Winterwochen reiste er nach Südafrika, um sich bei besten Bedingungen auf die neue Saison vorzubereiten. Vor seinen beiden letzten Rennen im Wallis und in der Lenzerheide installierte Schurter zuhause in Chur ein spezielles Höhenzimmer, um sich an die hohen Lagen der beiden Strecken zu gewöhnen.
So akribisch er im Sport ist, so gelassen kann er daneben sein. Im Team soll der Bündner für seinen trockenen Humor bekannt sein. Und auf Flugreisen gerne mal Teammitgliedern Dinge im Rucksack verstecken, damit diese dann bei der Sicherheitskontrolle auffliegen. Manager Fry sagt, Schurter wisse trotz seiner Leidenschaft für seinen Sport, dass es im Leben wichtigere Dinge gebe.
Er revolutionierte den Sport
2018, nach seinem WM-Titel in Lenzerheide und dem sechsten Sieg im Gesamtweltcup, wurde Schurter als Schweizer Sportler des Jahres ausgezeichnet. Dass die Weltcuprennen der Mountainbikerinnen und Mountainbiker im Schweizer Fernsehen seit Jahren live übertragen werden, hat viel mit dem Überflieger zu tun. Aber nicht nur in seiner Heimat, auch international revolutionierte Schurter seinen Sport – auf verschiedenen Ebenen. Im Training setzte der Bündner neue Massstäbe. Er leitete neue Trends in Sachen Material ein. Und er ist Mitinitiator der 2022 lancierten Bike Revolution, die speziell den Nachwuchs- und Breitensport fördern soll.
Mit seinen Erfolgen und seinem Wirken hat Schurter dem Mountainbikesport ein Vermächtnis hinterlassen, das über seinen Rücktritt bleiben wird. In der Lenzerheide wird Schurter nach der Siegerehrung für seine Karriere geehrt. Ein letztes Mal die grosse Bühne für den grössten aller Zeiten. Schurter sitzt auf einem Holzthron, die grössten Erfolge seiner Karriere eingraviert.
In einem Video richten aktuelle und ehemalige Konkurrenten Grussbotschaften an den langjährigen Dominator. Das sagt vieles über sein Standing in der Szene. Später spritzt Schurter Champagner in die Menge. «Nino, Nino.» Ein letztes Mal. Ein kurzes Winken. Ehe Schurter verschwindet.
Box
Nino Schurter hat in der Lenzerheide zwar sein letztes Weltcuprennen bestritten, er wird aber auch in Zukunft bei Velorennen am Start stehen. «Ich werde das eine oder andere Gravelrennen und Rennen über längere Distanzen machen», verrät Schurter. Und: Auch abseits des Aktivsports gäbe es das eine oder andere Projekt. Der Bündner könnte etwa ab nächster Saison als TV-Experte bei SRF am Mikrofon sein. Dies war aus dem Umfeld Schurters zu erfahren. (rmi)
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