If I can make it there, I’ll make it anywhere. It’s up to you, New York, New York , sang Frank Sinatra. Das Lied erzählt die Geschichte eines jungen Mannes aus der Provinz, der alle seine Träume und Hoffnungen in eine Stadt legt, die ihm wie eine Verheissung vorkommt und von der es heisst, sie schlafe niemals. Das Werk hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst.
Am Sonntag geht für einen von vier im Tableau der US Open verbliebenen Männer der Traum vom Grand-Slam-Titel in Erfüllung, vielleicht erstmals seit 2003 für einen Amerikaner. Weil Frances Tiafoe und Taylor Fritz am Freitag aufeinandertreffen, steht bereits jetzt fest, dass erstmals seit Andre Agassi 2005 ein Einheimischer den Final erreicht. Der Sieger trifft dort entweder auf den Italiener Jannik Sinner oder den Briten Jack Draper.
Jannik Sinner trotzt Dopingwirbel
Dass die Nummer 1 der Welt, der Sieger der Australian Open, der Mann des Jahres, erstmals im Halbfinal der US Open steht, mag auf den ersten Blick wenig überraschend sein. Dabei ist es äusserst bemerkenswert, wie Jannik Sinner mit dem Wirbel um seine Person umgeht, seit wenige Tage vor den US Open bekannt wurde, dass er Anfang Jahr zwei Mal auf positiv auf die verbotene Substanz Clostebol getestet worden war. Beide Mal wurde der Italiener zwar für wenige Tage provisorisch gesperrt, beide Male hatte er mit seiner Einsprache Erfolg. Bekannt wurden die Vorgänge erst jetzt, nach Abschluss des Verfahrens, verbunden mit einem Freispruch. Sinner hatte die Befunde damit begründet, dass sein Physiotherapeut Giacomo Naldi eine Trofodermin-Creme verwendet habe, um eine Schnittwunde an der Hand zu behandeln. Diese habe er sich mit einem Skalpell zugefügt, als er Hornhaut an Sinners Füssen behandelt habe. Dennoch trennte sich Sinner erst jetzt, im Verlauf der US Open, von seinem Physiotherapeuten.
Vereinzelt äusserten Spielerkollegen Kritik, auch Roger Federer und Rafael Nadal gehörten dazu. Weniger an Sinner selbst als am Verfahren und der fehlenden Transparenz. Andere Betroffene wie zum Beispiel die frühere Nummer 1 der Welt, Simona Halep, monierten, eine Ungleichbehandlung, weil ihre Verfahren weitaus mehr Zeit in Anspruch genommen hätten und sie währenddessen keine Turniere hätten bestreiten dürfen. Persönlich wurde nur der seit über einem Jahr rekonvaleszente Nick Kyrgios. Der Wimbledon-Finalist von 2022 weilt als Experte in New York und führt für den TV-Sender ESPN zuweilen Platzinterviews, bisher aber nicht mit Sinner. Er vertritt die Meinung, der Italiener sei ein Dopingsünder und müsse aus dem Verkehr gezogen werden, obwohl mehrere unabhängige Experten in ihren Gutachten Sinners Erklärung als glaubhaft taxieren.
Seit der Fall öffentlich geworden ist, spielt sich Kyrgios in den sozialen Medien und vor den Kameras als moralische Instanz auf. Für Sinner ist das offenbar nicht mehr als ein Nebenschauplatz. Danach gefragt, sagte der Italiener, er wolle nicht darauf eingehen. Jeder dürfe seine Meinung haben. Keine zwei Meinungen gibt es dazu, wer von den vier Halbfinalisten bei den US Open als grosser Favorit gilt. Sinner ist nach seinem Sieg bei den Australian Open Anfang Jahr der Einzige aus dem Quartett, der schon ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat. Zuletzt schaltete er mit dem Russen Daniil Medwedew den Sieger von 2021 in vier Sätzen aus. Sein Gegner im Halbfinal ist der Brite Jack Draper. Der allerdings hat das bisher einzige Duell der beiden gewonnen. 2021 beim Rasenturnier in Queens.
Frances Tiafoe ist kein Clown mehr
Er ist der Sohn von Immigranten, die aus dem Bürgerkrieg in Sierra Leone flüchteten, sie hausten in einer kleinen Kammer auf einer Tennisanlage, wo Vater Constant als Hausmeister amtete, die Mutter Alphina arbeitete als Krankenschwester. Frances schlief zuweilen auf einer Massagebank. Als er den Ball alleine gegen eine Wand schlug, stellte er sich vor, gegen Roger Federer bei den US Open zu spielen. Für seinen Traum wurde Tiafoe meist ausgelacht. Es fehlte an Geld. Die Spielausrüstung und die Gebühr für sein erstes Jugendturnier bezahlte sein erster Trainer. Doch 2017 ging Tiafoes Traum in Erfüllung, als er in der ersten Runde der US Open Federer in drei Sätzen unterlag. Es sind Geschichten, die das Leben manchmal schreibt.
2022 stand Tiafoe nach einem Sieg gegen Rafael Nadal zwar schon einmal im Halbfinal der US Open. Die folgenden Monate sollten hingegen weniger von Erfolg gekrönt sein. In Wimbledon sagte er: «Tennis ist brutal. So viele Höhen und Tiefen. Vor exakt einem Jahr war ich die Nummer 10 der Welt, jetzt bin ich kaum mehr gesetzt und verliere gegen Clowns.» Inzwischen hat Tiafoe den Tritt wieder gefunden. Zuletzt erreichte er den Final des Masters-1000-Turniers in Cincinnati, wo er jedoch Jannik Sinner unterlag und diesem bei der Siegerzeremonie scherzhaft den Mittelfinger zeigte.
Bei den US Open präsentiert sich Tiafoe bislang von seiner besten Seite, setzte sich unter anderem gegen Djokovic-Bezwinger Alexei Popyrin, den Bulgaren Grigor Dimitrov und in der dritten Runde im Blockbuster gegen Landsmann Ben Shelton in fünf Sätzen durch. Das dürfte viel mit David Witt zu tun haben, der seit Juli das Trainerteam ergänzt, dem der erst 27-jährige Argentinier Jordi Arconada schon länger angehört. 2022 war Tiafoe in fünf Sätzen am späteren Turniersieger Carlos Alcaraz gescheitert. Nun stellt sich ihm ein Amerikaner in den Weg: Taylor Fritz, gegen den Tiafoe 2016 nur das erste von inzwischen sieben Duellen hat gewinnen können.
Doch bei den US Open ist Tiafoe ein anderer, ein besserer Spieler. Nichts untermauert das mehr als die Tatsache, dass er dort selbst im schwachen letzten Jahr die Viertelfinals erreichte. Wenn er im grössten Tennisstadion der Welt (23,777 Plätze), dann schwingt immer auch die Geschichte mit, verbunden mit der Hoffnung, sie möge sich wiederholen. Benannt ist der riesige Kessel in Flushing Meadows nach Arthur Ashe, dem dreifachen Grand-Slam-Sieger, der 1972 als letzter afroamerikanischer Mann vor Tiafoe 2022 den US-Open-Halbfinal erreicht hatte. Gewonnen hat der bereits 1993 verstorbene Ashe in New York aber nie. Tiafoe wäre der erste amerikanische Major-Sieger bei den Männern seit Andy Roddick 2003.
Taylor Fritz' Notiz an sich selbst
Nachdem er 2021 im Wimbledon-Viertelfinal gegen Alexander Zverev verloren hatte, da tippte Taylor Fritz eine Nachricht an sich selbst in sein Handy: «Niemand auf der ganzen Welt macht noch weniger aus seinen Möglichkeiten als du. Du bist so verdammt gut, aber nur die Nummer 40 der Welt. Bringe es endlich auf die Reihe.» Nun, drei Jahre später, steht der Amerikaner bei den US Open erstmals im Halbfinal eines Grand-Slam-Turniers. Passenderweise nach einem Sieg gegen Alexander Zverev, dem vierten gegen einen Top-Ten-Spieler 2024 bei einem Major-Turnier. Zuvor hatte der 26-Jährige auf dieser Stufe eine 0:11-Bilanz vorzuweisen. Betreut wird er von den beiden Ex-Profis Michael Russell und seit 2018 von Paul Annacone, der von 2010 bi 2013 Roger Federers Trainerstab angehörte.
Das Tennisgen hat Taylor Fritz in die Wiege gelegt bekommen. Seine Mutter Kathy May war einst die Nummer 7 der Welt und stand 1978 in den Viertelfinals der US Open, Vater Guy war ebenfalls Profi und arbeitet heute als Trainer. Die Eltern liessen sich scheiden, als Taylor 18 Jahre alt war. Im gleichen Jahr heiratete er die frühere Tennisspielerin Raquel Pedraza, mit der er einen Sohn hat. Vor fünf Jahren erfolgte die Scheidung. Inzwischen ist Fritz mit der Modeinfluencerin Morgan Riddle liiert, die bei fast allen Turnieren an seiner Seite ist. So auch 2022, als er in Indian Wells im Final Rafael Nadal bezwang und sein erstes Masters-1000-Turnier gewann.
In diesem Jahr erreichte Fritz die Viertelfinals der Australian Open, wo er Novak Djokovic unterlag, und in Wimbledon (Niederlage gegen Lorenzo Musetti). Er ist damit der erste US-Amerikaner seit Andy Roddick 2007, der in demselben Jahr bei drei Grand-Slam-Turnieren im Viertelfinal stand. Roddick war 2003 in New York auch der letzte Amerikaner, der ein Major-Turnier gewinnen konnte. Weil Fritz im Halbfinal im ersten reinen US-Halbfinal seit 2005 auf Frances Tiafoe trifft (Andre Agassi besiegte Robby Ginepri), steht bereits jetzt fest, dass ein Amerikaner den Final erreicht.
Obwohl sie zwei völlig unterschiedliche Typen seien, verstünden sie sich prächtig, sagte Tiafoe. «Als Persönlichkeiten kannst du keine grösseren Extreme treffen. Er ist ein Videospiel-Typ, verlässt nie den Raum. Ich bin laut und manchmal unausstehlich. Weil wir so verschieden sind, kommen wir so gut miteinander aus.» Sie kennen sich bereits seit dem Kindesalter und spielten schon bei Jugendturnieren gegeneinander. Taylor Fritz geht als Favorit in die Partie, hat er doch sechs der sieben bisherigen Duelle mit Tiafoe bei den Profis gewonnen, darunter 2022 bei den Australian Open auch das einzige bei einem Grand-Slam-Turnier. Die einzige Niederlage geht auf das Jahr 2016 zurück, im ersten Kräftemessen der beiden.
Jack Draper wie Andy Murray
Als einziger Mann ist Jack Draper bei den US Open noch ohne Satzverlust, noch nicht einmal ein Tiebreak musste der Linkshänder bestreiten, der im Viertelfinal dem Australier Alex De Minaur (ATP 10) keine Chance liess und erstmals im Halbfinal eines Grand-Slam-Turniers steht. Es war sein erster Auftritt auf der grössten Tennisbühne der Welt, dem Arthur Ashe Stadium, das 23'771 Zuschauenden Platz bietet. «Für mich ging damit ein Traum in Erfüllung», sagt der 22-Jährige, der als erster Brite seit Andy Murray 2012 im Halbfinal der US Open steht. Murray gewann danach seinen ersten von drei Grand-Slam-Titeln. Das ist umso überraschender, als dass Draper zuvor erst sieben Partien im Hauptfeld gewonnen hatte. Er sagt: «Es gab Zeiten, in denen ich mich fragte, ob ich gut genug bin, ob dieser Sport das Richtige für mich ist. Oder ob ich nicht besser aufhören sollte.» Doch er habe nie aufgehört, an sich zu glauben. «Deshalb kommt dieser Erfolg für mich nicht überraschend. Ich wusste, dass mein Moment kommen würde.»
Wegen zahlreicher Verletzungen und mangelnder Fitness liess der grosse Durchbruch auf sich warten. Im letzten Jahr setzte ihn eine Verletzung an der Schulter während knapp drei Monaten ausser Gefecht, während der er Wimbledon verpasste. Es war eine Art Erweckungserlebnis, sagt Draper. Trainer James Trotman bestätigt die Einschätzung, wonach er «körperlich in der besten Form meines Lebens» sei. Entsprechend zuversichtlich geht Draper einen ersten Grand-Slam-Halbfinal an, wo er auf den Mann des Jahres trifft, den Italiener Jannik Sinner. «Es ist ein Privileg und eine Ehre. Für diese Momente arbeite ich hart.» Das bisher einzige Duell mit Sinner gewann Draper 2021 in zwei Tiebreaks in Queens auf Rasen. Auf dieser Unterlage feierte er Mitte Juni in Stuttgart seinen ersten ATP-Turniersieg.
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