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Fabian Cancellara: «Die tote Zeit zu Hause war die Hölle»

Fabian Cancellara spricht vor seiner letzten Saison über sein Horrorjahr 2015, seinen Wunsch-Abgang und seine Zukunftspläne. Klar ist: er freut sich auf die Zeit nach seiner Karriere.

Fabian Cancellara ist unterwegs in seine letzte Saison als Radprofi. Im Zug zwischen Bern und Zürich-Flughafen nimmt er sich Zeit, um seine Berg-und- Tal-Fahrt der letzten Monate Revue passieren zu lassen und über seine Pläne für die kommenden Monate zu sprechen.

Dann fliegt er ab – zuerst nach Belgien, wo er Velos testet und die Strecke der Flandern-Rundfahrt besichtigt, nachher weiter nach Spanien ins Trainingslager.

Fabian Cancellara über seine Gemütslage vor seiner letzten Saison als Radprofi:

«Ich bin relativ gelassen. Für mich steht ja schon lange fest, dass meine Karriere 2016 zu Ende geht. Ich habe das auch schon oft gesagt, obwohl es kürzlich als grosse Neuigkeit verkauft wurde. Ich stecke mitten im Wintertraining und bin sehr motiviert. Ich weiss, dass nachher fertig ist, und das fühlt sich gut an. Es ist nicht so, dass ich Torschlusspanik verspüren würde. Auch Wehmut hat sich bis jetzt nicht bemerkbar gemacht. Sicher gab es mal einige Sekundenbruchteile, in denen mir die Frage durch den Kopf ging, ob ich wirklich das Richtige mache. Das gehört dazu. Aber einmal ist fertig: 16 Saisons als Profi sind genug.»

... über seine Horrorsaison 2015:

«Es war wie verhext: Immer wenn ich ein gutes Niveau erreicht hatte, kam der Hammer. Im Frühling war ich bereit für die Klassiker, als ich mir bei einem Sturz in Belgien zwei Wirbelfortsätze brach. Vor der Tour de Suisse wurde ich krank und seuchte die Rundfahrt durch. An der Tour de France folgten dann im Gelben Trikot der nächste Sturz und die gleiche Verletzung wie im Frühling. Wieder kämpfte ich mich zurück, aber als ich an der Vuelta erneut krank wurde, war endgültig fertig. Da hat es mich richtig aus den Socken gehauen: Eine Woche lag ich völlig flach. Danach hatte ich keine Energie mehr, mich für die WM nochmals aufzubauen. Ich konnte mich nicht noch einmal aufopfern für etwas, was wieder mit einer Enttäuschung hätte enden können. Ich war mental ausgebrannt. Ich sass zwar rasch wieder auf dem Velo und fuhr locker um den Thunersee, aber an Rennen war nicht zu denken. An einen vorzeitigen Rücktritt habe ich aber keinen Gedanken verschwendet. Wie hätte ich so aufhören können?»

... die unfreiwillige Zeit zu Hause nach seinen Stürzen:

«Diese Zeit war die Hölle. Eigentlich ist es ja schön, zur Familie nach Hause zu kommen. Aber nicht, wenn du heimkommst, weil du gestürzt bist. Das war tote Zeit. Ich war zwar zu Hause, aber ich konnte kaum mithelfen, nicht mit den Kindern spielen oder ins Wasser springen. Gleichzeitig musste ich immer schon wieder ans Comeback denken, durfte keine unnötige Energie verpuffen und nicht zu viel essen.»

... sein Glück im Unglück:

«Bei meinen Stürzen habe ich zunächst gar nicht richtig realisiert, wie knapp ich am Rollstuhl vorbeigeschrammt bin. Es fehlten wenige Zentimeter. Da macht man sich schon seine Gedanken, aber als Sportler darfst du das nicht zu sehr an dich heranlassen. Es kann auch beim Treppengehen etwas passieren. Im Radsport gibt es eigentlich relativ wenig schwere Unfälle. Ich habe meine Stürze ja nicht provoziert: Ich hatte keine Chance, sie zu vermeiden. Die Verletzungen spüre ich zwar noch, aber sie behindern mich nicht mehr. An meinen Schlüsselbeinbruch aus dem Frühling 2012 hingegen werde ich in jedem Training erinnert. Es braucht recht viel Adrenalin, damit ich die Schulter nicht mehr spüre.»

... über die Häufung von Stürzen im Profi-Radsport:

«Ich bin ja nicht der einzige Profi, der dieses Jahr schwer gestürzt ist. Es hat überall ‹geklöpft und getätscht›. Ich glaube, es gab diese Saison so viele Schlüsselbeinbrüche wie noch nie. Der gegenseitige Respekt im Feld hat abgenommen. An der Tour de France hat man das extrem gespürt. Es wird mehr um Positionen gefightet als noch vor zehn Jahren. Heute hat jeder das Gefühl, ihm gehöre die Strasse. Die Jungen haben zum Teil zu früh das Gefühl, sie seien Champions. Dabei hat diese Entwicklung ihre positive Seite: Als ich Profi wurde, musste ich schauen, dass ich vom Feld nicht abgehängt wurde. Heute haben es die Jungen einfacher, weil vorne nicht mehr gedopt wird.»

... über Doping:

«Ich habe nicht den Eindruck, dass Doping heute im Profi-Radsport noch ein Faktor ist. Vielleicht bin ich naiv, aber heute weiss jeder, dass er jederzeit kontrolliert werden kann und die Proben später nachkontrolliert werden können. Kann der Reiz da wirklich noch vorhanden sein, etwas zu nehmen, wenn das Risiko so gross ist, auf der Strecke zu bleiben? Ich kann es mir nicht vorstellen. Trotzdem freue ich mich darauf, nicht mehr kontrolliert zu werden. Nicht nur wegen der Kontrollen selber, sondern auch wegen des administrativen Aufwands: Du musst ständig daran denken, deinen Aufenthaltsort zu melden. Hinzu kommt das Risiko, versehentlich irgendetwas Falsches zu essen oder zu trinken. Das ist das Schwierige an der Nulltoleranz. Wenn du heute ein feines Steak essen gehst und morgen kontrolliert wirst, kann es sein, dass der Test positiv ausfällt. Wenn du in gewisse Länder reist, musst du extrem aufpassen. In der Situation, in der der Radsport drinsteckt, mag es da gar nichts leiden. Wenn du sagst, du hättest kontaminiertes Fleisch gegessen, glaubt dir ohnehin niemand. Dabei ist der Radsport in Sachen Prävention schon viel weiter als andere Sportarten, wie die jüngsten Skandale aus der Leichtathletik zeigen. Genugtuung über Letztere empfinde ich aber nicht, damit kann ich mir schliesslich auch nichts kaufen.»

Cancellara über seinen Wunsch nach einem Abgang nach Mass:

Ich will auf hohem Niveau abtreten. Obwohl ich mir in meiner letzten Saison nichts mehr beweisen muss, wird es kein Auslaufjahr geben. Ich bleibe Profi bis zum letzten Tag. Ich will nochmals angreifen und bis zum letzten Rennen herausholen, was möglich ist. Ich habe immer noch meine Ziele, ich will Rennen gewinnen. Dass es die letzte Saison ist, ändert daran nichts. Ob mir das zusätzlichen Druck macht? Oder zusätzliche Motivation? Nein. Aber fragen Sie mich dies im Mai nochmals.

... über seine Ziele in der Abschiedssaison:

«Ich will an die Rennen gehen und sagen können, dass ich alles gemacht habe, was in meiner Macht stand. Schon in den vergangenen Wochen habe ich gut trainiert. Ich reise nicht wie ein Kartoffelsack ins Trainingslager. Ich muss nur aufpassen, dass ich mich nicht verzettle, denn dazu neige ich. Im Moment ist mein Fokus ganz auf die Frühjahresklassiker gerichtet, die Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix. Über den Rest der Saison will ich jetzt noch nicht reden, die Tour de France in Bern oder die Olympischen Spiele in Rio. Olympia ist sicher ein Thema, dazu wird es in den kommenden Wochen einige Gespräche geben. Ist das Strassenrennen zu hügelig für mich? Liegt mir die Zeitfahrstrecke besser? Dazu möchte ich mich im Moment nicht äussern.»

... über seine beruflichen Zukunftspläne:

«Eines ist klar: Ich will nicht nur meinen Kopf hinhalten und den Ex-Radprofi Cancellara verkaufen. Das hat zwar seine Berechtigung und kann einen Teil meiner künftigen Tätigkeiten ausmachen. Aber ich will selber auch etwas bewegen können, ich will weiterhin Stärke an den Tag legen – auch für mein Ego. Ich habe zwar kein Studium absolviert, aber ich habe einen grossen Rucksack an Erfahrung. In den Teams, für die ich gefahren bin, habe ich viel gelernt über Organisation und das Funktionieren von Gruppen, über das Zwischenmenschliche, über Motivation. Ich bin überzeugt, dass ich diese Erfahrung gewinnbringend einsetzen kann – ob im Sport oder in der Privatwirtschaft. In der neuen Vermarktungsfirma meines Managers Armin Meier oder bei meinem aktuellen Arbeitgeber Trek dürfte es Möglichkeiten geben, mich weiterzuentwickeln. Ich bin mir bewusst, dass ich in gewisser Hinsicht wieder bei null beginnen und noch viel lernen muss. Ich werde zum Beispiel nicht als Teamchef mein Gesicht zeigen und Leute um mich scharen, welche die Arbeit machen.»

... über seine Vorfreude auf die Zeit nach der Karriere:

«Ich freue ich sehr auf die Zeit nach der Karriere. Ich bereue meinen Weg nicht, ich habe viel erreicht, aber ich habe auch auf vieles verzichtet. Jetzt bin ich bereit für den nächsten Schritt. Ich bin froh, wenn ich mir keine Nummer mehr an den Rücken heften muss. Für die bevorstehende Veränderung will ich mir Zeit lassen, um mein soziales Umfeld mehr zu festigen. Es wird nicht nur für mich ein grosser Wandel sein, sondern auch für meine Familie. Ich will als Vater meiner beiden Töchter mehr präsent sein. Klar ist aber auch, dass ich nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen und Taxi für Frau und Kinder spielen werde. Ich werde nicht mehr vier, fünf Wochen am Stück weg sein. In den ersten Jahren werde ich sicher immer noch ziemlich viel Velofahren, nur schon aus gesundheitlichen Gründen. Es wäre nicht gut, den Umfang zu schnell zu reduzieren. Ein Comeback ist aber ausgeschlossen. Das ist das oberste Gebot: Es gibt kein Zurück.»

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