Klaus Zaugg, Vancouver
Mythos ist die Bezeichnung einer geschichtlichen Epoche und steht in unserem Falle für die Epoche des Schweizer Eishockeys unter Ralph Krueger (1997 bis 2010). Spätestens nach diesem Turnier hier in Vancouver ist diese Epoche zu Ende. Vielleicht auch schon heute nach dem Spiel gegen Weissrussland.
Gegen die Weissrussen steht Krueger zum 297. Mal an der Bande. Was wird von diesen 297 Spielen (oder 300 wenn wir ins Halbfinale kommen) bleiben?
Gewinnt Krueger heute und rückt ins olympische Viertelfinale vor, dann geht er durch die Vordertür. Dann ist das Ziel erreicht, Platz sieben in der Weltrangliste gefestigt und seine
Epoche gekrönt. Dann wird der Druck auf seinen Nachfolger Sean Simpson noch grösser. Dann werden Kruegers Verdienste gewürdigt.
Der Deutsch-Kanadier hat unser Eishockey aus der Mittelmässigkeit in die erweiterte Weltspitze geführt und spätestens mit dem 2:3 nach Penaltyschiessen gegen Kanada weltweiten
Respekt erarbeitet. Unter Krueger hat unsere Nationalmannschaft gegen
alle Grossen an WM- oder Olympiaturnieren gepunktet und amtierende Weltmeister (Tschechien, Turin 2006) und Olympiasieger (Kanada, Turin 2006) in deren Bestbesetzung (mit
allen NHL-Profis) besiegt. Aber noch immer (und wohl noch einige Zeit) werden wir nicht genug Spieler haben, die auf internationalem Niveau eine Partie durch individuelle Glanzlichter entscheiden. Wir können nur durch bessere Organisation, taktische Schlauheit, Disziplin und Mut gegen die Besten der Welt bestehen. Krueger hat die Möglichkeiten des defensiven Eisschachspiels, der Motivationskunst ausgereizt. Der Anteil des Coaches an unserem Erfolg ist also höher als sonst im Mannschaftssport üblich. Krueger hat so gut gearbeitet, dass die Erfolge (seit seinem Amtsantritt nie in Abstiegspielen an einer WM) selbstverständlich geworden sind und darum inzwischen sogar von der Verbandsführung gering geschätzt werden.
Aber bei einer Niederlage heute gegen Weissrussland kann Kruegers Mythos zu Staub zerfallen. Dann ist der siebte Platz in der Weltrangliste an Weissrussland verloren und die Welt ist ungerecht: Der letzte Eindruck bleibt haften. Und dieser letzte Eindruck wäre Scheitern. Ein Scheitern Kruegers. Der Druck auf seinen Nachfolger Sean Simpson würde deutlich kleiner.
Krueger ignoriert die sporthistorische Bedeutung dieser Partie. «Das haben wir ganz ausgeblendet.» Es gehört zu seinen Qualitäten, dass er sich nicht ablenken lässt. Und er beschwört die Hockeygötter, wenn er sagt: «Dieses Turnier 2010 in Vancouver hat die grosse Sensation noch nicht gehabt. Aber seit die NHL-Stars mitspielen, hatten alle olympischen Turniere eine Sensation.» In der Tat: 1998 war es
das Scheitern der Kanadier, 2002 das Ausscheiden der Schweden im Viertelfinale gegen Weissrussland, 2006 erneut der Untergang der Kanadier.
Was Krueger nicht sagt, aber sich insgeheim erhofft: Dass den Schweizern 2010 diese Sensation gelingt. «Warum nicht die Krönung in Vancouver?», hat Krueger einmal auf die Frage geantwortet, was er vom olympischen Turnier 2010 erwartet.
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