Während der 90er-Jahre verfügte die Schweiz mit Tony Rominger, Alex Zülle, Laurent Dufaux und Pascal Richard über mehrere Fahrer, die bei den drei grossen Landesrundfahrten aufs Podest fahren konnten. Doch inzwischen sind 28 Jahre verstrichen, seit mit Alex Zülle bei der Vuelta letztmals ein Schweizer auch am Ende der drei Wochen ganz oben stand. Bereits 30 Jahre liegt Tony Romingers Sieg beim Giro d’Italia zurück.
Seither schrieb Fabian Cancellara Schweizer Radsportgeschichte, auch bei der Tour de France. Während 29 Tagen trug der Berner das Maillot jaune. Als Spezialist für Klassiker und Zeitfahren gewann er nie eine Grand Tour.
Einer, der Profil und Klasse mitgebracht hätte, war Gino Mäder. Im Herbst 2021 gewann er die Nachwuchswertung der Vuelta und wurde Fünfter. Im Frühling hatte er als Solist die sechste Etappe des Giro d’Italia gewonnen.
Storer und Mäder gemeinsam auf dem Podest
Als Kind träumte Gino Mäder nicht etwa vom Maillot jaune der Tour de France, sondern von der Maglia rosa. «Ich werde mal wie Marco Pantani und gewinne den Giro d’Italia», sagte er einmal zu seiner Mutter Sandra.
In Erfüllung gehen sollte der Traum beim Schweizer Team Tudor. Im März 2023 streckte Gino Mäder im luzernischen Schenkon im Hauptsitz des Teams von Fabian Cancellara die Hand aus und sagt: «Also gut, ich komme zu euch!» Dabei war noch gar nicht über Geld gesprochen worden. Doch Mäder sagte: «Das ist nicht das Wichtigste. Euer Projekt überzeugt mich.»
Das Versprechen des Tudor-Teamchefs
Offiziell geworden wäre der Wechsel Mäders von Bahrain-Victorious zu Tudor wohl am 1. August. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Während der fünften Etappe der Tour de Suisse stürzte er am 15. Juni 2023 auf der Königsetappe in der Abfahrt vom Albulapass in einer Linkskurve und erlag tags darauf in Chur seinen schweren Verletzungen.
Wenige Monate später startete das Team Tudor Pro Cycling beim Giro d’Italia und damit erstmals bei einer grossen Landesrundfahrt. Teamchef Raphael Meyer versprach damals: «Wir holen die Maglia rosa für Gino. Irgendwann schaffen wir das.» Auch wenn Gino Mäder nie für Tudor fahren konnte, fährt er beim Schweizer Team immer irgendwie mit.
Nun startet das mit Julian Alaphilippe und Marc Hirschi prominent und kostspielig verstärkte Schweizer Team zum zweiten Mal beim Giro d’Italia, ohne die beiden Aushängeschilder. Mit ein Grund dafür ist Michael Storer.
Wie Mäder es war, ist der Australier ein Spezialist für grosse Rundfahrten. Schon vor einem Jahr erreichte er als Zehnter der Gesamtwertung Rom. Nun wähnt sich der 28-Jährige in der besten Form seines Lebens, wie er am Tag vor dem Start in der albanischen Küstenstadt Durrës, wo der Giro d’Italia am Freitag startet, sagt. In allen Bereichen habe er sich verbessert.
Storers Machtdemonstration in den Alpen
Eindrücklich unter Beweis stellte Michael Storer das zuletzt bei der Tour of the Alps. Mit über 16’000 Höhenmetern in fünf Etappen ist die Rundfahrt im Südtirol ein Eldorado für Kletterer. An drei der fünf Renntage war er als Solist unterwegs. Beim ersten Mal, um eine Etappe zu gewinnen, beim zweiten Mal, um das Leadertrikot zu verteidigen, beim dritten Mal, um sich den Gesamtsieg zu sichern, was ihm in überzeugender Manier gelang.
Mit dieser initiativen Fahrweise verkörpert Storer auch die Philosophie von Tudor: lieber angreifen und mit wehenden Fahnen untergehen, statt sich im Feld zu verstecken. Wobei von Anwärtern auf eine Topklassierung im Gesamtklassement beim wegen unberechenbaren Wetters oft chaotischen Giro d’Italia auch Besonnenheit und Stehvermögen gefordert sind.
Storers Achillesferse ist das Zeitfahren. Über sieben Minuten und damit mehr als einen Drittel seiner 21 Minuten Rückstand auf den vor Jahresfrist in Italien alles überragenden Tadej Pogacar handelte er sich in den beiden Prüfungen gegen die Uhr ein. Storer sagt: «Ich habe mich in allen Bereichen verbessert und im Winter vor allem an meinen Schwächen gearbeitet.»
Am Zeitfahren also. Tipps erhielt er dabei im Trainingslager in der Höhe der Sierra Nevada in Spanien auch von Teamkollege Larry Warbasse, der ihm beim Giro d’Italia als Helfer zur Seite stehen wird. Kürzlich erzählte der Amerikaner, dass zu sehen gewesen sei, wie gut Storer in Form sei.
Nach den Favoriten Primoz Roglic und Juan Ayuso gehört der Australier zu den zahlreichen Anwärtern auf einen Podestplatz, zusammen mit Mikel Landa, Adam Yates, Richard Carapaz, Egan Bernal oder Antonio Tiberi. «Wir können Grosses von Michael erwarten», sagt Teamkollege Warbasse.
Träumt der Australier von der Maglia rosa? «Natürlich, wer schon nicht?», fragt er zurück und lacht. «Ich bin ein besserer Fahrer als im letzten Jahr. Dank dem Team, das hinter mir steht und an mich glaubt.» Wie damals bei Gino Mäder, der das Trikot des Schweizer Teams nie überstreifen konnte. Vielleicht sorgt Storer nun bald dafür, dass der Traum von der Maglia rosa, den Mäder und Tudor gemeinsam geträumt hatten, in Erfüllung geht.
Kommentare
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien, die Kommentare werden von uns moderiert.
Zu diesem Thema wurden noch keine Kommentare geschrieben.