Wer wird in Zukunft auf unseren Kirchenbänken sitzen? Welches Bild mögen diese Leute von uns haben? Wie könnten wir es beeinflussen? Solche Fragen haben unsere Vorfahren seit dem Mittelalter umgetrieben. Daraus entwickelte sich der faszinierende Brauch, bei Neubauten und Renovationen Zeitzeugnisse in die goldenen Kugeln auf den Turmspitzen prominenter Gebäude zu legen. Eine nähere Beschäftigung mit diesen noch nicht systematisch ausgewerteten Quellen lohnt sich, ganz besonders in Schwyz. Über die nächsten paar Wochen sei versucht, die Leserinnen und Leser des «Boten» davon zu überzeugen.
Wenn man durch Städte und Dörfer Mitteleuropas flaniert, sind die goldglänzenden Objekte zwischen Himmel und Erde kaum zu übersehen. Mancherorts heissen sie Turmkugeln, anderswo Knöpfe oder Knäufe, aber gemeinsam ist vielen, dass bei Öffnungen Kassetten oder Büchsen mit Dokumenten und Objekten zum Vorschein kommen – als Sammelbegriff dafür soll das Wort «Turmkapseleinlagen» dienen.
Münzen und sogar Schutzmasken
Es handelt sich um ein echtes Massenphänomen. Stand heute, sind international über 1750 Standorte belegt, davon 35 allein im Kanton Schwyz. Der Reihentitel «An die Nachkommenschaft» wurde 1898 bei der Pfarrkirche Muotathal verwendet. Starke Gemeindestrukturen und hohe Investitionen in kirchliche Bauten haben die Praxis hierzulande zweifellos befördert.
Die früheste Nachricht wurde 1394 im deutschen Halberstadt auf eine Metallplatte eingeritzt, und die jüngste wird wahrscheinlich gerade jetzt irgendwo aufgesetzt. Fast immer enthalten die Schriftzeugnisse Informationen zu Bauarbeiten, Handwerkern und Amtsträgern, häufig auch zu Lebensmittelpreisen, Münzsorten und merkwürdigen Ereignissen aus nah und fern.
Sonst sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt – seit der Pandemie etwa werden gern Schutzmasken deponiert. Besonders spannend sind serielle Einlagen, also die Existenz wiederholter Selbstdarstellungen im Abstand von ein, zwei Generationen. In Schwyz sind Reihen von fünf bis sieben Deponaten, etwa in Arth oder Steinerberg, keine Seltenheit – im Kloster Einsiedeln sind es gar ein Dutzend. Da eröffnen sich Untersuchungs- und Vergleichsperspektiven, die von weit mehr als nur lokalem Interesse sind. Gelegentlich gibt es mehrere gefüllte Kugeln in der gleichen Ortschaft, ja sogar am selben Bau – auch dafür werden uns Beispiele begegnen.
Die älteste bekannte Handschrift überhaupt
Schwyzer Historiker sind schon früh auf den Brauch aufmerksam geworden. Eine für den Hof des Klosters Einsiedeln in der Stadt Zürich 1467 verfasste Nachricht, die bisher älteste bekannte Handschrift überhaupt (!), wurde im 19. Jahrhundert ediert, und die Mitteilungen des Historischen Vereins haben seit den 1970er-Jahren auf prominente Serien hingewiesen. Derselbe Verein gab mir letzten Dezember die Möglichkeit, das Phänomen an seiner Jahresversammlung vorzustellen.
Mehrere Pfarreibroschüren weisen mit berechtigtem Stolz auf ihre eigene Überlieferung hin, zum Beispiel in Lauerz. Eine Forschungsreise hat zudem bestätigt, dass in Türmen wie auch Archiven des Kantons noch viele Schätze liegen. Für Hinweise auf weitere Quellen bin ich aber immer dankbar, auch wenn eine umfassende Erfassung aller Bestände nicht mehr möglich sein wird.
Also, schauen wir uns die Inhalte der hiesigen Turmkugeln einmal näher an. Wer Lust hat, kann sich in sieben weiteren Artikeln ein Bild machen. Wir beginnen nun eine kleine Kantonstour, mit Zwischenhalten in Schwyz, Gersau, Lauerz, Innerthal und Lachen, bevor die Serie endet mit zwei Artikeln zu geistlichen und weltlichen Autoren, die uns aus ganz unterschiedlichen Gründen Bemerkenswertes hinterlassen haben.


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