Wir werden dieses Jahr 175 Jahre alt, wenn man die Annahme der Bundesverfassung 1848 als Geburtstag der Schweiz nimmt. Oder wir sind gerade 732 geworden, wenn man vom Rütlischwur ausgeht. Oder 132 Jahre, wenn man die Bundesfeiertage zählt, der «erste» 1. August war 1891.
Es ist gar nicht so leicht, zu sagen, wie alt die Schweiz ist. Auch sonst musste ich mir eingestehen, dass ich vieles aus der Geschichte unseres Landes gar nicht haargenau weiss. Vor Kurzem wurde ich gefragt – als Schwyzerin müsse ich das ja schliesslich wissen –, wer denn da auf dem Rütli was genau geschworen hat. Und ob diese Eidablegenden eigentlich auf irgendeine Art als Vertreter ihrer Waldstätte gewählt wurden. Und wenn ja, von wem.
Ich wollte natürlich nicht zugeben, dass ich das nicht weiss. Da waren doch die drei …, wie hiessen die noch? Einer war Stauffacher … Es half nichts, ich musste mir eingestehen: Ich habe nur historisches Halbwissen über die Geburtsstunde der Schweiz. Bei Nicht- oder Halbwissen hilft Recherche. Wissen ist, wo Wissen ist – in diesem Fall im Bundesbriefmuseum. Da war ich seit einem Schuelreisli in der Primarschule nicht mehr.
«Es gibt keine Stunde null der Eidgenossenschaft», sagt die Leiterin des Museums gerade, als ich etwas verspätet zur Führung komme. – «Und was ist denn nun mit dem Rütlischwur?» Die gedachte Frage wird sofort beantwortet: Der Bundesbrief von 1291 war, so lerne ich, ein reines Zweckbündnis. Eines von vielen Landfriedensbündnissen im 13. und 14. Jahrhundert. Keine Gründungsurkunde.
Weder Namen noch Ort stehen darauf. Die besiegelte Papierrolle habe erst viel später die Bedeutung als Bundesbrief erhalten. Nämlich in den 1880er-Jahren, als der damalige Bundesrat eine gute Story suchte, um die gemeinsame Geschichte der Kantone zu betonen, die konfessionellen Konflikte zu überwinden und die ehemaligen Sonderbundskantone zu integrieren.
Ich schaue mir den Bundesbrief an, der da unaufgeregt in der Vitrine liegt. Ein alter Bund zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden sollte also den Zusammenhalt fördern, der Schweiz durch eine gemeinsame Geschichte eine gemeinsame Identität geben. Genau die Kantone der Innerschweiz, die als Nein-Sager der Nation gelten.
Die Führung geht weiter: Schwyz, das der Schweiz ihren Namen gegeben hat, habe der Verfassung des Landes gar nie zugestimmt, erfahre ich. Die Vorvorfahren sagten Nein zur ersten Verfassung 1848, die Vorfahren sagten Nein zur ersten Totalrevision der Verfassung 1874, und beim letzten Nein, zur zweiten Revision 1999, war ich zwar da, durfte aber noch nicht an die Urne. Es hätte wohl auch nichts geändert.
Es wird heute wie früher leidenschaftlich gerne Nein gesagt im Kanton Schwyz. Das führt rundherum oft zu Kopfschütteln, was die Schwyzerinnen und Schwyzer wiederum nicht ohne Stolz zur Kenntnis nehmen, wie es mir manchmal scheint. Als ich mich vom Museum auf den Heimweg mache, in Gedanken noch in den Jahrhunderten, fällt mir auf, dass doch deutlich mehr wehende Schweizer Fähnchen auf Balkonen und in Geranientöpfen im Wind flattern als Kantonsfläggli. Immerhin ein kleines Bekenntnis, denke ich.
Dann fährt ein Subaru an mir vorbei. Impreza. Auf der Heckscheibe steht in markanter Schrift «Eidgenoss». Ich hätte Lust, den Fahrer ins Museum einzuladen.
Was ich vom Besuch im Museum mitnehme, ist ein Buch zum Bundesbrief in der Hand und ein Zitat im Kopf: «Die Schweiz ist weder 1291 noch 1848 entstanden, sondern sie entsteht immer wieder neu.» Der Satz stammt vom Historiker Roger Sablonier. Er gefällt mir (der Satz, nicht Roger Sablonier). Sie entsteht immer wieder neu, aber nur, weil viele zwischendurch auch Ja sagen.
Sollte mich wieder jemand nach dem Rütli fragen, dann weiss ich immer noch nicht, wer da genau was geschworen hat. Aber ich werde sagen, das sei eigentlich auch nicht so entscheidend.
Apropos: Zum Geburtstag der Verfassung habe ich mir in meiner Lieblingsbuchhandlung eine ebensolche gegönnt. Auch, weil ich das Gefühl hatte, als Journalistin und interessierter Mensch muss ich doch im Besitz einer Verfassung sein. Nicht nur digital. Das rote Heftli auf Ökopapier gibts für 50 Rappen in Buchhandlungen. Öffentliche Führungen im Bundesbriefmuseum übrigens sogar gratis.