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Der wahre Tell heisst Melchior Diethelm

Bild: silvan bucher

Hand aufs Herz: Kennen Sie Melchior Diethelm? Ehrlich gesagt, ich kannte ihn nicht. Bis ich ihn am 12. September um 18.48 Uhr näher kennenlernte. Nicht persönlich, nein, denn er lebt nicht mehr. Er spielte bei der Ausarbeitung unserer Bundesverfassung von 1848 eine entscheidende Rolle. Der Arzt und gebürtige Märchler hatte ein bewegtes Leben. So war er 1832 Verfassungsrat und Statthalter des Kantons Schwyz und eine Zeit lang Chefredaktor der «NZZ». Er hätte es verdient, ein Denkmal zu bekommen.

Ein Liberaler für die Konservativen

1848 vertrat der Liberale Melchior Diethelm den konservativen Kanton Schwyz in der 23-köpfigen Revisionskommission, die den Auftrag hatte, eine Bundesverfassung zu erarbeiten. Eine der Knacknüsse der neuen Verfassung war, zu bestimmen, wer im neuen Staat das Sagen haben soll. Das auf dem Tisch liegende Einkammersystem war so umstritten, dass die Verhandlungen zu scheitern drohten. Diethelm brachte dann das aus der amerikanischen Verfassung mit Senat und Repräsentantenhaus bekannte Zweikammersystem ein. Für die Schweiz wurde daraus der National- und der Ständerat abgeleitet. Die Schwyzer dankten ihm seine geniale Idee nicht: Zuerst wurde er als Kantonsrat abgewählt, und dann lehnten sie die neue Bundesverfassung rundherum ab. Am Ende mussten sich die Schwyzer aber dem urdemokratischen Mehrheitsprinzip beugen, und die Bundesverfassung konnte in Kraft treten.

Tell als Bindeglied

Die Schweiz ist heute ein Hort der Stabilität, aber der Weg dahin war über Jahrzehnte hinweg chaotisch, und alles hätte auch ganz anders kommen können. Progressive und konservative Kantone standen sich im Sonderbundskrieg unversöhnlich in einem Europa gegenüber, das von Monarchen geprägt war, die mit allen Mitteln verhindern wollten, dass in der Mitte Europas, in diesem kleinen Land, eine Republik entsteht. Sie sahen ihre absolutistische Macht bedroht und liebäugelten sogar damit, die Schweiz zu besetzen und untereinander aufzuteilen. Doch dieses Widerständige, die Skepsis vor zu viel Macht und der Willen, in Freiheit und Unabhängigkeit zu leben, waren der gemeinsame Nenner aller Stände – der Konservativen und der Liberalen.

Dieser gemeinsame Nenner der Freiheit, der im Zentrum der Legende Tells steht. Diesem Stück von Schiller, das General Dufour zur Bildung der Willensnation Schweiz geschickt in den Mittelpunkt stellte. Denn in dieser Geschichte des Befreiungskämpfers fanden sich alle wieder: die Sieger und die Verlierer des Sonderbundskrieges.

Gemeinsinn und gesunde Skepsis

Was hat das alles mit heute zu tun? Sehr viel. Als Freisinnige trage ich diese Werte in mir, die dieses Land stark und einzigartig gemacht haben: die Gestaltungsfreiheit des Individuums, die direktdemokratischen Rechte, der Gemeinsinn, aber auch eine gesunde Skepsis gegenüber einem Staatswesen, das sich immer mehr in private Angelegenheiten und in die Wirtschaft einmischt. Weil wir vieles viel zu selbstverständlich nehmen, genügsam und selbstzufrieden werden, verlieren wir aus den Augen, was uns ausmacht und worum uns alle unsere Nachbarn beneiden.

Die Agenda der urbanen «Elite»

Der viel zitierte Spruch «Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen», gilt nicht für die Schweiz. Jede und jeder kann sich einmischen und mitgestalten. In den letzten Jahren wird der politische Diskurs in der Schweiz aber immer mehr von einer urbanen «Elite» geprägt, die – mit einer grossen medialen Unterstützung – Themen auf die Agenda setzt, die nur kleine Minderheiten betreffen und mit den relevanten Herausforderungen, die wir dringend angehen müssen, nichts zu tun haben. Unsere Energiesicherheit, eine gute und bezahlbare Gesundheits- und Altersvorsorge, die Steuerung der Einwanderung, ein vernünftiger und mehrheitstauglicher Klimaschutz und die Regelung unserer Beziehung zu Europa sind unendlich viel wichtiger als Scheindiskussionen über eine gendergerechte Sprache.

Die Freiheit als Antrieb

Das 175-Jahr-Jubiläum unserer grossartigen Bundesverfassung sollte Anlass sein, kurz innezuhalten, Männern wie Melchior Diethelm zu danken und die richtigen Schlüsse aus unserer Geschichte zu ziehen.

Es gibt nichts Wichtigeres als die Freiheit, das Leben in der Sicherheit einer wehrhaften Demokratie und die ständige Weiterentwicklung dieses Landes, das aus dem Chaos entstand und heute demokratisches Vorbild für die ganze Welt ist.

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