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«Es geht nicht mehr»: Die grosse Wut auf den Wolf im Tessin

Ziegenhalter und Bergbauern protestieren lautstark gegen eine ungenügende Eindämmung des Wolfes im Tessin.
«Die Situation ist unhaltbar geworden», sagten mehrere Rednerinnen und Redner an der Demo in Bellinzona.
Bild: Gerhard Lob

Ein Meer an Menschen. Mehrere Hundert Personen, vielleicht sogar Tausend, zogen am Samstagnachmittag durch Bellinzonas Innenstadt. Lautstark mit Kuhglocken, aber vollkommen friedlich. Gekommen waren Bergbauern, Käserinnen und Käser sowie Vertreter von Landwirtschaftsorganisationen. Vor allem aber auch viele «Normalbürger», die der Meinung sind, dass die Ausbreitung des Wolfes in den Tessiner Tälern entschiedener bekämpft werden muss. «Retten wir die Alpen» stand auf einem gigantischen Plakat, das den Demonstrationszug anführte. Auch mehrere Esel, eingewickelt in blutverschmierten Binden, trabten mit.

«Die Situation ist unhaltbar geworden», sagten mehrere Rednerinnen und Redner bei der Abschlusskundgebung vor dem Gebäude der Kantonsregierung, darunter Tatiana Guerra, die in der Capriasca einen kleinen Betrieb mit 26 Ziegen führt und Käse produziert. Auch bei ihr wurden schon zwei Tiere gerissen. Die von den Behörden vorgeschlagenen Schutzmassnahmen seien unrealistisch, präzisierte Guerra im Gespräch mit dieser Zeitung.

Gemäss einer Erhebung der Tessiner Bauernvereinigung (UCT) sind 74 Prozent der mit Schafen bestossenen Alpen und 79 Prozent der von nicht gemolkenen Ziegen bestossenen Alpen nachts nicht angemessen vor Wolfsattacken schützbar. Betrachte man die Schutzmöglichkeiten der Alpweiden tagsüber, so steige diese Zahl im Tessin gar auf 94 Prozent.

Bilder blutverschmierter Tiere

Nicht zum ersten Mal wird protestiert. Die wohl spektakulärste Aktion fand im April 2022 statt, als Bergbauern ein Dutzend gerissene Schafe und Lämmer vor dem Regierungsgebäude in Bellinzona aus einem Laster kippten. Die Bilder der blutverschmierten und tödlich verwundeten Tiere aus Linescio, dem oberen Maggiatal, machten schnell die Runde. «Es reicht», sagte damals Germano Mattei, ein ehemaliger Grossrat, der die Aktion mit Gleichgesinnten inszeniert hatte und auch am Samstag wieder protestierte.

Derzeit leben im Kanton Tessin sieben Wolfsrudel, dazu vier nachwuchslose Wolfspärchen. Gerade erst hat das Bundesamt für Umwelt das Gesuch des Kantons Tessin zum Abschuss des gesamten Carvina-Rudels abgelehnt. Es handelt sich um das einzige Abschussgesuch zur präventiven Regulierung von Wolfsrudeln, das dieses Jahr in der Schweiz abgelehnt wurde. Weiterhin erlaubt bleibt jedoch der Abschuss eines Wolfshybriden des Rudels und aller Jungtiere aus diesem Jahr.

Risse von Nutztieren sind an der Tagesordnung. Immer mehr Bergbauern geben frustriert die Alpwirtschaft auf. Erst kürzlich hatte die Landwirtin Flavia Anstasìa angekündigt, dass sie ab 2026 keinen Alpkäse mehr auf der Alpe di Montaoia im Gambarogno mehr produzieren werden. Mitte September waren zwei Ziegen von einem Wolf gerissen worden – in unmittelbarer Nähe des bekannten Wanderwegs Monte Tamaro – Monte Lema. Die Empfehlung, die Tiere nachts in einen Stall einzusperren, sei absurd, sagte Anstasìa auf tio.ch, weil sie gerade im Sommer wegen der Hitze nachts weideten.

Damhirsche in Gehege gerissen

Im Sommer 2024 hatten Bergbauern im Maggiatal Alarm geschlagen, weil immer mehr Alpwirtschaften aufgegeben werden, und die Regierung zum Handeln aufgefordert. Inzwischen ist eine Petition lanciert worden, in welcher der Bund und die Kantone gebeten werden, unverzüglich griffige Massnahmen zu ergreifen. «Ein Zusammenleben mit den Wölfen ist nicht möglich», so der Tessiner Mitte-Ständerat Fabio Regazzi. Mit anderen Worten: Es müssen mehr Wölfe abgeschossen werden.

Just in der Nacht von vergangenem Donnerstag auf Freitag wurde ein Dutzend Damhirsche in einer Gehegehaltung in Bironico gerissen. Vermutlich war auch hier ein Wolf oder mehrere Wölfe am Werk. «Die Situation ist ausser Kontrolle», sagt der betroffene Tierhalter Luca Cattaneo.  Wie immer in solchen Situationen, muss zuerst eine DNA-Analyse gemacht werden, um die Aggressoren zweifelsfrei zu überführen. Das kantonale Jagdamt hat bereits erklärt, die Damhirsche seien nicht ausreichend geschützt gewesen. In der Statistik der gerissenen Tiere werden sie daher mit Sicherheit nicht aufgeführt.

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