
Landauf, landab suchen Menschen verzweifelt nach einer neuen Bleibe – längst nicht mehr nur in den grossen Städten. Auch in mittelgrossen Zentren wie Chur, Freiburg oder Schaffhausen stehen kaum noch Wohnungen leer.
«In Zeiten, in denen es selbst für den Mittelstand schwer ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, wird es für armutsbetroffene Menschen fast unmöglich», sagt Michelle Beyeler, Privatdozentin für Politikwissenschaften an der Universität Zürich. Sie präsentierte am Dienstag in Bern mit Städtevertretern die aktuellen Sozialhilfezahlen. Der Fokus lag auf der dramatischen Lage am Wohnungsmarkt für die ärmste Bevölkerungsschicht.
Sozialhilfequote sinkt, Wohnungssuche harzt
Die gute Nachricht zuerst: Die Quote der Sozialhilfeempfänger in den Städten sinkt seit mehreren Jahren. Gegenüber dem Vorjahr hat sie 2024 um 0,1 Prozentpunkte abgenommen und beläuft sich neu auf knapp 4 Prozent. Im landesweiten Schnitt liegt die Zahl bei 2,8 Prozent.
Die schlechte Nachricht: Immer mehr Sozialhilfebeziehende sind bei der Wohnungssuche am Anschlag. Sie erhalten zwar Geld vom Staat, um überhaupt eine Wohnung bezahlen zu können. Die lokalen Sozialdienste legen jedoch fest, welche Mietkosten pro Familie oder Person akzeptiert werden. Oft sei es für die Betroffenen schwierig, im Rahmen dieser Limite Wohnraum zu finden, sagt Nicolas Galladé. Er ist Winterthurer Sozialvorsteher und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, die 60 Städte aus der ganzen Schweiz vertritt.
Hinzu kommen weitere Hürden: angehäufte Betreibungen, das Stigma der Sozialhilfe. Zudem würden Sozialhilfebeziehende häufiger aus ihren Wohnungen verdrängt, etwa wegen Totalsanierungen alter Häuser, sagt Politologin Michelle Beyeler. Sie befragte die Behörden von 20 Schweizer Städten zur aktuellen Lage. 16 Sozialdienste gaben an, dass heute mehr Menschen in ihrer Gemeinde «akut von Wohnungsverlust bedroht» seien als noch vor fünf Jahren.
In Bern nahm die Obdachlosigkeit am stärksten zu
Wer keine neue Bleibe findet, landet im schlimmsten Fall auf der Strasse. Acht Städte gaben in der Umfrage an, dass die Zahl der Menschen, die im öffentlichen Raum oder in der Natur leben, in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Es handelt sich um Biel, Chur, Freiburg, Lausanne, Luzern, Schaffhausen, Sion und Yverdon. Die Stadt Bern spricht gar von einer deutlichen Zunahme. Absolute Zahlen liefert die Studie allerdings nicht. Es handelt sich um die Einschätzung der zuständigen Fachpersonen. Genf, Schlieren, St. Gallen, Uster, Wädenswil, Winterthur, Zug und Zürich meldeten keine Veränderungen.
Nicolas Galladé betont: «Man landet nicht einfach von einem Tag auf den anderen auf der Strasse». Bei der «harten Form» der Obdachlosigkeit spielten nebst der fehlenden Wohnung häufig auch Faktoren wie psychische Probleme oder Sucht eine Rolle.
Viel häufiger kommt es vor, dass Armutsbetroffene nach dem Wohnungsverlust ohne festen Wohnsitz leben – und sich von Zwischenlösung zu Zwischenlösung hangeln. Experten sprechen von «Sofasurfern». Die Personen kommen beispielsweise bei Verwandten oder in Notunterkünften unter. Solche Fälle haben in den letzten fünf Jahren in nahezu allen untersuchten Städten ausser in La Chaux-de-Fonds zugenommen. Basel und Zürich liessen die entsprechende Frage in der Studie unbeantwortet. Den stärksten Anstieg verzeichneten Luzern und Schlieren: Sie stellten eine «deutliche» Zunahme der Menschen ohne festen Wohnsitz, die in verschiedenen Unterkünften leben, fest.
So reagieren die Städte auf die Problematik
Die öffentliche Hand steht unter Druck, auf diese Zustände zu reagieren. Politikwissenschaftlerin Michelle Beyeler ruft die Städte dazu auf, das Angebot an Übergangswohnungen und temporären Unterkünften zu erhöhen. Sie begrüsst es zudem, dass die Sozialdienste zunehmend bei der Wohnungssuche unterstützen: Sie coachen Armutsbetroffene im Bewerbungsprozess oder suchen direkt mit Vermietern nach Lösungen.
Viele Städte passen auch die von der Sozialhilfe akzeptierten Mietobergrenzen an. Zürich beispielsweise erhöhte den Maximalbetrag für die monatlichen Wohnkosten eines Einpersonenhaushalts letztes Jahr um 200 Franken auf neu 1400 Franken.
Solche Massnahmen haben allerdings ihren Preis: Schon heute machen Mietkosten rund ein Drittel der gesamten Sozialhilfekosten der Städte aus. Der Winterthurer Stadtrat Nicolas Galladé hält fest, dass der Handlungsspielraum der Sozialdienste letztlich begrenzt sei. «Die Wohnungsknappheit stellt ein generelles Problem dar.» Jene, die ohnehin am wenigsten haben, spüren sie einfach am stärksten.
