
Im Bundeshaus sitzt künftig ein Einwohner der Grande Nation: Für den am Sonntag in den Genfer Staatsrat gewählten Nicolas Walder (Grüne) rutscht sein Parteikollege Rudi Berli in den Nationalrat nach.
Der 62-Jährige wohnt in Pougny im französischen Departement Ain, direkt an der Grenze. Er ist das erst zweite Parlamentsmitglied mit Wohnsitz im Ausland. Bisher war das nur bei dem in Berlin wohnhaften Ex-Botschafter Tim Guldimann der Fall, der zwischen 2015 und 2018 für die Zürcher SP im Nationalrat sass.
Wie 114'000 weitere Personen (Stand Juni 2025) pendelt Rudi Berli als Grenzgänger täglich von Frankreich aus in den Kanton Genf. Die «frontaliers», die allermeisten davon französische Staatsbürger, machen knapp ein Drittel aller Beschäftigten im Kanton aus.
Rudi Berli arbeitet als Gemüsebauer beim Bio-Genossenschaftsbetrieb «Jardins de Cocagne» in Avusy GE, wenige Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Der gebürtige Zürcher ist seit 40 Jahren im Kanton Genf zu Hause. Die Landwirtschaftspolitik ist sein zentrales Dossier. Neben den Grünen ist Berli auch bei Uniterre aktiv. Die Bauernorganisation setzt sich für eine nachhaltige, kostendeckende und solidarische Landwirtschaft ein.
Umzug wegen Wohnungsnot
Seit 2019 wohnt Rudi Berli in Pougny. «Die angespannte Wohnsituation in Genf hat, wie viele Tausende andere, auch meine Familie zum Umzug über die Grenze bewogen», erklärt der Neo-Nationalrat auf Anfrage.
In der wirtschaftlich boomenden Genferseeregion ist freier Wohnraum knapp und teuer. Mit 0,34 Prozent hat der Kanton Genf die tiefste Leerwohnungsquote der Schweiz. Dies hat zu starkem Bevölkerungswachstum in der «France voisine» geführt.
Der Kanton Genf sei historisch eng mit dem benachbarten Frankreich verbunden, sagt Grenzgänger Rudi Berli. «Ich will mich auch im Bundeshaus dafür einsetzen, dass die Zusammenarbeit eng ist und die betroffene Bevölkerung demokratisch darüber mitbestimmen kann.»
Ein Thema sorgt unter den Grenzgängern mit Schweizer Staatsbürgerschaft derzeit für rote Köpfe: Im Juni kündigte der Genfer Staatsrat an, dass ihre Kinder ab Sommer 2026 nicht mehr an Schweizer Schulen unterrichtet werden sollen. Betroffen sind knapp 2500 Kinder.
Schulstreit erreicht das Élysée
Geht es nach der Regierung, sollen sie nach Abschluss ihrer laufenden Schulstufe an französische Schulen wechseln müssen. Bislang konnten Kinder, die bereits in Genf eingeschult waren, sowie deren jüngere Geschwister auch bei einem Umzug nach Frankreich bis zum Ende der Schulzeit an Schweizer Schulen verbleiben.
Betroffene Familien haben Klage eingereicht. Die Absicht des Staatsrats verstosse gegen Treu und Glauben, machen sie geltend. Der Umzug nach Frankreich sei unter der Annahme erfolgt, dass ihre Kinder weiterhin in der Schweiz zur Schule gehen könnten. Zudem bezahlten die Grenzgänger ihre Steuern in Genf; lediglich ein Drittel überweist der Kanton an Frankreich.
Rudi Berli engagiert sich in einem Komitee gegen die angestrebte Regeländerung. Er hofft, dass das Genfer Kantonsparlament den Entscheid noch umstösst. «Das soziale Umfeld dieser Kinder, ihre Freunde, Sportvereine, Pfadigruppen sind im Kanton Genf», sagt der Grüne. «Unsere Kinder sind die zukünftigen Arbeitskräfte von Genf. Es ist sinnvoll, sie nach den Anforderungen der Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft auszubilden.»
Ob er das Thema auch im Bundeshaus aufs Tapet bringt, weiss Berli noch nicht. Bildung ist grundsätzlich kantonale Angelegenheit. Allerdings hat die Debatte längst internationale Dimensionen: Bei ihrem Besuch in Paris im September machte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron gegenüber Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter seinem Ärger über den Entscheid des Genfer Staatsrats Luft. Die überlasteten Schulen in französischen Grenzgemeinden müssten plötzlich Tausende Kinder mit Schweizer Pass aufnehmen.