Unmittelbar nach den Wahlen am Samstag strömten Zehntausende Menschen in die Hauptstadt Tiflis, um gegen den zunehmend autoritären Kurs der Regierungspartei «Georgischer Traum» zu protestieren. Sie blockierten Strassen, versammelten sich vor dem Parlamentsgebäude und drangen bis in den Hof des Präsidentenpalastes vor. Die Situation eskalierte rasch: Die Polizei setzte Pfefferspray und Wasserwerfer ein, um die Menge zurückzudrängen.

Die Behörden des Landes beschuldigten westliche Geheimdienste, die Proteste organisiert zu haben, und drohten mit Strafen für alle Beteiligten. Viele wurden während der Massenproteste am Wochenende festgenommen, darunter die Organisatoren. Ihnen drohen bis zu neun Jahre Haft wegen eines angeblichen Umsturzversuchs.
«Demonstriert wird hier aber schon seit über einem Jahr fast täglich», sagt Gia Japaridze. Auch er geht regelmässig auf die Strasse. Der Politik-Professor und ehemalige Diplomat kritisiert die Regierung auch im Fernsehen. Im vergangenen Jahr wurde er deshalb von Maskierten angegriffen. «Danach hatte ich eine Zeit lang einen Bodyguard», sagt er im Gespräch mit CH Media. Der sei ihm aber irgendwann zu teuer geworden.
Um sich zu schützen, kommuniziere er aber schon länger nur noch über geschützte Apps und habe immer Pfefferspray dabei. «Wenn es die Regierung aber tatsächlich auf mich abgesehen hat, werde ich ohnehin nichts tun können», sagt er. Das sei die traurige Wahrheit.

Dass er damit recht behält, ist auch an den Verhaftungen der letzten Wochen zu sehen: Helen Khoshtaria, Vorsteherin der Oppositionspartei Droa, wurde verhaftet, weil sie eine Protestbotschaft auf Wahlplakate des Tifliser Bürgermeisters Kakha Kaladze malte. Kaladze ist Mitglied der Regierungspartei «Georgischer Traum». «Helen hat ihm <Russischer Traum> auf das Plakat geschrieben», sagt Japaridze. Dafür könnte sie jetzt für zwei Jahre ins Gefängnis kommen. Im Interview mit CH Media vor zwei Jahren gab sich Khoshtaria, die schon mehrfach verhaftet wurde, kämpferisch: «Das Gefängnis macht mir nichts aus.»
Trotz mutiger Bürgerinnen und Bürger: die Situation in Georgien spitzt sich immer weiter zu. «Sie wollen Georgien bis Ende Jahr in einen totalitären Staat verwandeln», ist sich Japaridze sicher. Als Georgier sei es deshalb seine Pflicht, alles dafür zu geben, dies zu verhindern. Das habe er kürzlich auch seiner 12-jährigen Tochter erklärt. Die habe ihn nach ihrem Onkel gefragt, der sitzt ebenfalls wegen Protesten im Gefängnis. «Ich habe ihr gesagt, dass es normal ist, ins Gefängnis zu kommen», so der Professor.
So richtig glaubt er das aber selber nicht, wie er im Gespräch sagt: «Wir tun einfach so, als wäre das alles normal, um nicht verrückt zu werden. Wir brauchen Hilfe von aussen, um unser Land zu retten.» Der Westen müsse aufhören, die Lage in Georgien durch eine rosarote Brille zu betrachten. «Die Situation hier ist schrecklich.»
«Alle Zahlen sind Lügen»
In Georgien gewann die Regierungspartei «Georgischer Traum» bei den Kommunalwahlen in allen Gemeinden des Landes mit teils über 80 Prozent der Stimmen. Die Kandidaten der Partei wurden Stadtpräsidenten in der Hauptstadt Tiflis und in anderen grösseren Städten. Am Abend des 4. Oktober kam es deswegen in Tiflis zu Massenprotesten: Studenten marschierten von der Staatlichen Universität Tiflis zum Freiheitsplatz und erklärten, das Ziel des Protests sei der Kampf für das Vaterland. Sie betonten, dass «alle Zahlen, die bei den heutigen Wahlen genannt werden, Lügen» seien.
Am Morgen des 5. Oktober erklärte der georgische Premierminister Irakli Kobachidse, dass oppositionelle Kräfte während der Protestaktionen versucht hätten, in Tiflis einen Putsch zu organisieren. Dieser Versuch sei jedoch gescheitert. Kobachidse beschuldigte westliche Geheimdienste, die Proteste organisiert zu haben. «Wir werden gegenüber jeglicher Gewalt kompromisslos sein», schob er nach. In Georgien werde es «keinen Platz für eine Revolution geben, die von ausländischen Geheimdiensten inszeniert wird», erklärte Kobachidse.
Die Partei «Georgischer Traum» habe ihr Land in den letzten Jahren «konsequent von Europa entfernt und es mit korrupten und gewalttätigen Methoden unter den Einfluss Russlands gebracht», sagt Lana Ghvinjilia, Direktorin der gemeinnützigen Organisation Populus Rei, zu CH Media. «Den Weg, den Russland unter Putin in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen gegangen ist, haben wir leider in fünf Jahren zurückgelegt», ergänzt sie. «Die Repressionen in Georgien nehmen nur noch zu.»
Dennoch gehen die Menschen weiterhin auf die Strassen, um zu protestieren. Im vergangenen Jahr nahmen rund 220'000 Menschen an Demonstrationen gegen das Gesetz über «ausländische Agenten» in Tiflis teil. «In diesem Jahr haben wir gesehen, dass der Freiheitsplatz mit Menschen gefüllt war, nach meiner groben Schätzung waren es 150'000», sagt Ghvinjilia. Leider sei es derzeit schwierig festzustellen, wie viele von ihnen von der Polizei festgenommen worden seien. «Wir wissen nur, dass die Führer aller oppositionellen Bewegungen und Parteien derzeit in Haft sind.»
Die Säuberung des oppositionellen Feldes in Georgien durch die Regierungspartei geht unaufhörlich weiter. Im Juni dieses Jahres verurteilte ein Gericht in Tiflis drei Führer oppositioneller Parteien zu acht Monaten Haft. Im Frühjahr 2025 wurde der ehemalige Präsident und Regierungs-Kritiker Michail Saakaschwili zu 12,5 Jahren Gefängnis verurteilt.