Als Martina Bircher, Aargaus Bildungsdirektorin, auf den 1. August ein Handyverbot an allen Schulen erliess, hielt man ihr reflexartig vor: Aber Sie sind doch sonst immer für Selbstverantwortung! Tja, ist sie wohl. Doch wo soll da der Widerspruch stecken? Beraubt dieses Verbot die Kinder ihrer Selbstbestimmung? Oder fördert es sie gar, wirklich selber zu entscheiden? Handyverbot als Entzug – zugunsten von Freiheit?
Freiheit erkennt man ganz einfach: Frei ist, wer auch anders kann. Zum Beispiel heute Abend ohne Handy. Singen. Lesen. Briefe schreiben. Reizt mich wohl nur, wenn ich schon auf den Geschmack am Singen, Lesen, Schreiben gekommen bin. Und wie komme ich auf den Geschmack? Ich muss mich darauf eingelassen haben, und zwar fokussiert. Falls nicht, mach ich automatisch, was von selbst geht: Display wischen. Auch wenn ich danach frustriert schlafen gehe. Gilt auch für Erwachsene. Fürs kindliche Selbst, das sich erst formt, ist es wegweisend. Es muss erfahren, wie es in Form kommt mit Singen oder Lesen. Sonst ist seine Freiheit ein Witz.
Weiss es nicht selbst, was ihm gut tut? Doch. Bloss heisst das noch nicht, dass es auch tut, was ihm gut tut. Es bleibt oft beim «Ich würde ja gern, aber …» Vernunft und Wille spielen Nebenrollen, bei Jung wie Alt. In der Hauptrolle: Gewohnheiten. Unser Hirn hält sich an das, was es kennt. Das lässt uns (nicht nur am Handy) wie Angestellte unserer Routinen aussehen, selten wie deren Chefs. Also arbeitet Freiheit schlauerweise mit Routinen zusammen, bildet erwünschtes Verhalten zur Gewohnheit aus.
Schafft das auch, wer schon in einer Routine (wie Handygebrauch) steckt? Lässt sich eingespieltes Verhalten umgewöhnen?
Sich etwas Neues anzugewöhnen, ist anstregend
Gewohnheiten sind eine Art Trampelpfade im Gehirn, routinierte Reflexe, die uns bei täglichen Entscheiden das Nachdenken ersparen. Jedes Mal, wenn ich auf die gleiche Weise handle, vertieft sich die Erinnerungsspur. Im Laufe der Zeit wird fix abgespeichert, wie ich in bestimmten Situationen reagiere. Ein mentaler Energiesparmodus, der zum fraglosen Königsweg gerät, alternative Varianten haben gegen ihn keinen Zug; anders als die Routine wollen sie umständlich gerechtfertigt werden.
Darum ist es ungeheuer anstrengend, uns etwas Neues anzugewöhnen. Selbst wenn wir das dringend wünschen. Wie beim Handygebrauch. Nicht nur Kinder, auch die meisten Erwachsenen möchten die Zeit lieber analog mit Freunden verbringen, ein Buch lesen, angeln gehen. So wie auch zwei Drittel weniger Fleisch essen wollen, weniger Auto fahren, anders reisen, überhaupt vieles im Leben umdrehen – theoretisch. In der Praxis hapert es. Von «verbaler Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre» spricht der Soziologe Ulrich Beck.
Trotzdem sind wir nicht Gefangene unserer Routinen. Wir können uns bei unserem Treiben zusehen – und die Richtung ändern. Im Prinzip. Die besagten Erinnerungsspuren im Hirn sind eingespielt, nicht angeboren. Können folglich umprogrammiert werden. Bloss halt nicht durch vernünftige Einsicht und einmaligen Willensakt. Sondern nach derselben Methode: durch tätige Wiederholung. Eine alte Gewohnheit zieht sich nur zurück, wenn wir sie mit einer neuen überschreiben.
Nach zwei Monaten schaltet sich der Autopilot ein
Du bist überzeugt, es wäre für dich prima, du würdest weniger am Handy abhängen, dafür mehr joggen? Dann hilft einzig Joggen. Täglich. Über mindestens 66 Tage. Sagt die US-Psychologin Wendy Wood, eine Koryphäe der Verhaltensforschung. Sie hat variantenreich experimentiert: Eine Gruppe von Leuten will gesünder essen, nur noch ein Mal Fleisch wöchentlich? Kann gelingen, aber erst im dritten Monat, dank beharrlicher Eingewöhnung, andernfalls übernimmt sofort wieder die abendliche Lust auf Salami-Sticks.
Oder: Mit dem Velo statt Auto zur Arbeit? Möglich, schafft aber nur, wer das Velo zur täglichen Routine macht. Ziel ist der Tag 67, dann schaltet sich der Autopilot ein, ersetzt den früher automatischen Griff zum Autoschlüssel.
Zurück zu Schule, zu «Verbot versus Selbstverantwortung». Das jugendliche Selbst kann erst wollen, was es will, wenn es erfahren hat, was ihm Bildung bedeutet. Diese Erfahrung braucht Zeit, Hingabe, Konzentration. Der Appetit darauf braucht Zeit. Und passiert nur in einer Sphäre der Unabgelenktheit.
*Ludwig Hasler hat Physik und Philosophie studiert und führt seither ein journalistisch-akademisches Doppelleben. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion erst beim «St.Galler Tagblatt», danach bei der Zürcher «Weltwoche». Seit 2001 ist er freier Publizist, Vortragstourist, Hochschuldozent, Kolumnist.