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Deutschlands Ex-Präsident 

Joachim Gauck über die Schweiz: «Das Festhalten an einer absoluten Neutralität begünstigt den Täter»

Im Ukraine-Krieg müsse jedes Land Partei nehmen, sagt der frühere deutsche Bundespräsident. Auch die Schweiz könne sich nicht vollständig heraushalten. Im Umgang mit der AfD rät er seinen Landsleuten zu mehr Gelassenheit.
«Unter meinen Landsleuten gibt es vielleicht die Sehnsucht, selbst eine friedlichere Geschichte zu haben oder neutral zu sein»: Joachim Gauck.
Bild: Janine Schmitz/Imago

Joachim Gauck empfängt in seinem Büro in den Räumen des Bundestags. Eben hat der 83-Jährige ein neues Buch veröffentlicht: «Erschütterungen» heisst es und handelt von den Herausforderungen, vor denen westliche Demokratien stehen. Doch zunächst geht es um die Schweiz: Vor deren Demokratiegeschichte habe er grossen Respekt.

Herr Gauck, glauben Sie, dass viele Ihrer Landsleute ähnlich wie Sie auf die Schweiz blicken?

Joachim Gauck: Ich gehöre da wohl eher einer Minderheit an. Auf die direkte Demokratie blicke ich heute viel skeptischer, zumindest würde ich sie nicht in Deutschland einführen wollen. Aber das Zusammenleben der unterschiedlichen Sprachgruppen und Konfessionen beeindruckt mich. Mit dieser schon lange gelebten Einheit in Vielfalt wünsche ich mir die Schweiz viel stärker in die EU integriert. Sie wäre eine Bereicherung. Unter meinen Landsleuten gibt es sicher eine gewisse Bewunderung für den Erfolg der Schweiz und vielleicht auch die Sehnsucht, selbst eine friedlichere Geschichte zu haben oder neutral zu sein.

Die Neutralität wird nun von vielen infrage gestellt. Zu Recht?

Ich denke schon. Ich habe keine Probleme mit der Bündnisfreiheit. Man muss nicht der Nato angehören, aber in einer Situation, in der so klar ist, wer Täter und wer Opfer ist, finde ich das Festhalten an einer absoluten Neutralität schwer nachvollziehbar. Es begünstigt den Täter.

Auch Deutschland muss sich der neuen Realität stellen. Kanzler Scholz sprach nach dem russischen Überfall von einer Zeitenwende. Haben die Deutschen die Konsequenzen daraus gezogen?

Ich war nach seiner Rede erst einmal irritiert, weil keine entsprechende Politik folgte. Jetzt sehe ich aber eine solche Politik. Die Rede des Kanzlers war auch deshalb so wichtig, weil sie von einem Sozialdemokraten kam: Hätte ein Konservativer so geredet, hätte sich das linksliberale Deutschland wohl gegen ihn gestellt.

Es musste ein SPD-Politiker sein, der mit der Entspannungspolitik seiner Parteikollegen Willy Brandt und Egon Bahr brach?

Wahrscheinlich. Deutschland war geprägt von einer Politik der Entspannung, die in Zeiten von Willy Brandt zum Ziel hatte, die Machthaber Osteuropas zu stabilisieren, damit diese liberaler würden. Anfangs funktionierte das auch: Im Vertrag von Helsinki erkannte der Ostblock an, dass er die Menschenrechte akzeptiert. Doch unter Breschnew wollten sie nicht liberaler werden, sodass die Entspannungspolitik zum Appeasement wurde. Man muss unterscheiden, wann eine Öffnung angebracht ist und wann nicht. Aber für die meisten Sozialdemokraten und auch für Teile der CDU war sie viel zu lange angebracht. So verdeckte der Wunsch, Russland möge ein Partner sein, die Wahrnehmung, dass Russland unter Putin sich zum Gegner, letztendlich zum Feind gemacht hatte.

Hat Deutschland gegenüber Osteuropa Schuld auf sich geladen?

Wir sind nicht schuld am russischen Überfall auf die Ukraine, aber wir haben Versäumnisse begangen. Ich habe schon 2014 in Danzig gesagt, wenn man Aggressoren nicht zügle, steigere man ihren Appetit auf mehr. Damals wurde ich von den linksliberalen Medien gescholten, aber ich habe recht behalten. Dass unsere Kanzlerin Angela Merkel, vor der ich grossen Respekt habe, an dem Mantra festhielt, die Gaspipeline Nord Stream 2 sei ein privatwirtschaftliches Projekt, war sicher auch ein Fehler. Aber Merkel war damit nicht allein: Die deutsche Wirtschaft wollte billige Energie.

Ihr Nachfolger Frank-Walter Steinmeier gibt sich wegen seiner früheren Russland-Politik zerknirscht. Merkel schweigt. Sollte auch sie Fehler einräumen?

Sie schreibt ja gerade ihre Autobiografie. Ich bin gespannt, wie sie sich darin äussert. Steinmeier hat über eigene Irrtümer gesprochen und dies aktuell durch eine eindeutige Verurteilung der russischen Aggression untermauert. Er hat sogar vom «Bösen» gesprochen. Diese Dimension taucht im politischen Diskurs eher selten auf.

Scholz rief einen Politikwechsel aus, doch was die Lieferung von Waffen an die Ukraine anging, zögerte er lange.

Ich denke, er wollte Rücksicht auf Teile seiner Partei und auch auf die Bevölkerung nehmen. Es gab ja auch Intellektuelle aus unterschiedlichen politischen Lagern, die sich verbündeten und einen eher pazifistischen Ansatz forderten, der darauf hinausliefe, das Opfer nicht zu unterstützen. Das wäre nicht nur unmoralisch und unchristlich, sondern auch politisch unklug. Wenn eine solche Aggression nicht klar beantwortet wird, ist das ein sehr schlechtes Signal für die freie Welt.

«Wir sind nicht schuld am Überfall auf die Ukraine, aber wir haben Versäumnisse begangen»: Gauck über die deutsche Russland-Politik. 
Bild: Janine Schmitz/Imago

Womöglich hatte Scholz Angst vor einer Eskalation. Haben Sie dafür Verständnis?

Nicht nur die Deutschen waren zunächst zögerlich und wollten eine Eskalation unbedingt verhindern. Hinzu kommt, dass die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet ein wirklich grosser Paradigmenwechsel ist. Diese Zurückhaltung im Militärischen ist eine Langzeitfolge des früheren deutschen Übermuts, der Europa zu grossen Teilen ruiniert hat. So etwas wirft einen langen Schatten, und daher rührt wohl auch die Furcht, etwas falsch zu machen.

In Ihrem Buch beschäftigten Sie sich mit Bedrohungen von aussen und innen, denen die Demokratie ausgesetzt sei. Durchlebt die deutsche Demokratie derzeit die schwerste Krise seit ihrer Wiederherstellung nach dem Zweiten Weltkrieg?

Ich denke, wir haben in der Nachkriegsgeschichte zumindest konkretere Bedrohungen erlebt. Die Sowjetmacht war sich zum Beispiel nicht sicher, ob sie Westberlin mit Gewalt nehmen sollte, und versuchte, die Stadt auszuhungern. Dann gab es die Zeit der Achtundsechziger, als an den westdeutschen Universitäten eine alternative Szene entstand und zudem ein mörderischer Linksterrorismus. Es gab zwar freie Wahlen, freie Medien und die Herrschaft des Rechts, aber im progressiven Milieu glaubten einige, eine Wiederkehr des Faschismus stünde bevor.

Sie lebten damals in der DDR. Wie sahen Sie den westdeutschen Linksextremismus?

Wir dachten, die sind verrückt. Wir hätten gern so ein System gehabt wie in der Bundesrepublik. Die Mehrheit in der DDR hing nicht dem Kommunismus an, sondern lebte mit einer unüberzeugten Minimalloyalität. Nach dem Aufstand von 1953 und dem Mauerbau 1961 wusste man aber, wo der Hammer hängt. Der Widerstandsgeist war weitgehend gebrochen, es herrschte Friedhofsruhe.

Wirkt das bis heute nach? Derzeit wird darüber diskutiert, warum so viele Ostdeutsche die rechtsradikale AfD wählen.

Ostdeutschland ist noch immer eine Transformationsgesellschaft. Während die Westdeutschen zwölf Jahre Diktatur erlebten, kamen im Osten noch einmal 44 Jahre hinzu. Das sind mehr als zwei Generationen. Viele waren Nutzniesser oder Träger des Systems, fremdelten mit dem Übergang zur Demokratie und fühlten sich nach der Wende ungerecht behandelt. Andere waren normale Beschäftigte und arbeiteten in Betrieben, die nach 1990 keine Zukunft hatten. Wer über 50 war, musste sich oft völlig neu erfinden. Das überforderte viele. Allerdings sprechen wir von einer Minderheit, die Mehrheit der Ostdeutschen ist angekommen.

1990 konnte man meinen, die Unterschiede zwischen Ost und West würden irgendwann verschwinden. Nun scheint die Ost-Identität eine Renaissance zu erleben.

Das ist ein interessantes Phänomen: Dass Menschen eine Diktatur nicht selbst erlebt haben und trotzdem von ihr geprägt sind. Es gibt eine transgenerationelle Weitergabe prägender Erfahrungen, der Siege wie der Niederlagen. So gibt es junge Leute, die nach dem Ende der DDR geboren wurden, aber durch die elterliche Prägung den Osten und sein System verteidigen. Hinzu kommt, dass nach dem Mauerfall Millionen in den Westen gezogen sind. Ostdeutschland war einmal eigenständig, nun muss es einer westlich geprägten Agenda folgen. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte das auch, aber eine Minderheit hat Probleme damit und fühlt sich gekränkt.

Rechte Parteien wie die AfD gibt es in vielen Ländern Europas. So gesehen könnte man ihren Aufstieg auch als Hinwendung zur europäischen Normalität begreifen.

Bei der Arbeit an meinem Buch bin ich auf angelsächsische Studien gestossen, die in 28 Ländern Europas durchgeführt wurden. Demnach sind 33 Prozent der Bevölkerung mit einer autoritären Disposition ausgestattet. Das sind Menschen, denen Sicherheit wichtiger ist als Freiheit, denen Wandel grundsätzlich problematisch erscheint und die eine starke Führung wollen. In normalen Zeiten ist das nicht problematisch, aber in Krisenzeiten und angesichts eines sehr massiven Wandels radikalisiert sich dieses Segment der Bevölkerung und wendet sich von traditionellen konservativen Parteien ab. Derzeit erleben wir unglaubliche technologische Innovationen, denken Sie nur an die künstliche Intelligenz. Die grösste Verunsicherung ist aber durch die starke Zuwanderung entstanden. Viele fürchten, fremd im eigenen Land zu werden.

Hat die CDU durch die Aufgabe konservativer Positionen zum Aufstieg der Rechten beigetragen?

Als konservative Volkspartei hatte die CDU schon immer den Anspruch, auch Positionen der Mitte zu vertreten. Dort hat sie Wahlen gewonnen, aber auch Stimmen am rechten Rand verloren. Die CDU befindet sich in einem Dilemma: Wenn sie die Themen der Rechten zu sehr in den Mittelpunkt stellt, verliert sie in der Mitte an Zustimmung. Wenn sie aber nichts tut, erstarrt sie vor einer Bewegung, die mit einfachen Parolen reüssiert, aber keinerlei Angebote für eine bessere, zukunftsgewandte Politik hat.

Friedrich Merz, der Chef der CDU, wirkt auf mich oft wie gelähmt: Er versucht, konservativer zu politisieren, scheint aber auch Angst vor der eigenen Courage zu haben.

Dabei könnten die Konservativen selbstbewusst darauf hinweisen, dass dieses Land auch durch eine konservative Politik sehr weit gekommen ist. Und gerade als konservative Partei kann ich in Zeiten der Verunsicherung die Sorgen vieler Menschen ansprechen und ihnen ein Gefühl von Beheimatung geben. Darin unterscheiden sich die Konservativen dann auch von denen, die Angst, Hass und Unsicherheit schüren und unsere liberale Demokratie beschädigen oder sogar abschaffen wollen.

Merz schliesst jede Zusammenarbeit mit der AfD aus. Wenn ich mit Kommunalpolitikern im Osten Deutschlands rede, scheint mir diese Brandmauer zu bröckeln.

Diese Barriere einzureissen, kann sich die CDU nicht leisten. Schlimm ist, dass viele nun in Angststarre verfallen: Ein AfD-Landrat ist gewählt worden, oh Gott, geht jetzt die Demokratie in Deutschland unter?! Dieser Gestus nutzt den Rechten. Tatsächlich sind sie Scheinriesen, die man auch grösser machen kann. Es ist nicht absehbar, dass sie einen Koalitionspartner finden. Dafür müssten sie sich häuten.

«Ich wollte erreichen, dass das Land stärker zu sich kommt und sich selbst stärker vertraut»: Gauck über seine Ziele als Bundespräsident.
Bild: Janine Schmitz/Imago

Heisst das, Sie halten eine Mässigung der AfD für möglich? Bisher hat sie sich stets in die Gegenrichtung bewegt: immer weiter nach rechts.

Derzeit habe ich keine Hoffnung, dass sie sich mässigen könnte. Bei anderen rechten Parteien in Europa sehe ich aber solche Tendenzen. Die Schwedendemokraten, die anfangs durch nazistische Parolen auffielen, sind den Weg der Verbürgerlichung gegangen. Auch das Schweizervolk hat seinen Frieden mit dieser Bewegung gemacht, weil sich die SVP nicht so antidemokratisch darstellt wie die AfD. Die SVP traut der AfD nicht, sie ist ihr zu völkisch. Ich würde die SVP nicht wählen, weil ich mir die Schweiz als Teil eines vereinten Europas wünsche. Aber man kann sie nicht als rechtsradikal darstellen. Ich würde sie nationalpopulistisch nennen, das ist etwas anderes.

Fehlt in Deutschland eine Partei wie die SVP? Franz Josef Strauss sah die Aufgabe seiner CSU auch darin, das Aufkommen rechtsradikaler Parteien zu verhindern.

Ja, diese Überlegung stellte er an. Wenn wir die rechten Parteien in Europa sine ira et studio betrachten, fällt auf, dass sie eine Repräsentationslücke füllen. Das ist nicht nur schlecht, denn eine Demokratie lebt von der Beteiligung möglichst vieler Bürger. Es findet also eine Aktivierung statt, auch wenn sie mir nicht unbedingt gefällt. Ich halte auch nichts davon, diejenigen zu dämonisieren, die rechts aussen wählen. Ich hasse Nazis und Faschisten. Aber nicht jeder Wähler der AfD ist ein Faschist. Das zu sagen, heisst noch nicht, antiliberale oder reaktionäre Positionen stillschweigend hinzunehmen. Die demokratische Mitte hat allerdings eine stärkere Überzeugungskraft, wenn sie zielgenau streitet.

Sie betonen sehr stark den Wert der Freiheit. In Deutschland gehören Sie damit einer Minderheit an. Haben Sie als Bundespräsident irgendetwas in Ihrem Sinne geändert?

Ich wollte als Präsident erreichen, dass das Land stärker zu sich kommt und sich selbst stärker vertraut. Ob ich damit Erfolg hatte, werden wir vielleicht in zwanzig Jahren wissen. Über die Freiheit spreche ich so, wie alle Politiker über sie sprechen könnten. Aber zu viele tun dies nicht, weil sie die Freiheit für selbstverständlich halten. So kommt es, dass allzu oft nur deren negative Seiten wahrgenommen werden. Vielfach gilt es auch als Ausweis von Intelligenz, das Unbehagen zu kultivieren.

Manche Ansichten, die Sie als Präsident vertraten, scheinen sich nun doch noch durchzusetzen. Hat der Krieg den Deutschen einen Realitätsschock versetzt?

Tatsächlich deuten Umfragen darauf hin, dass sich eine Mehrheit für einen höheren Wehretat und für Waffenlieferungen an ein überfallenes Opfer ausspricht. Wir werden wieder eine Generation sehen, die weiss, dass wir das, was wir lieben, verteidigen müssen.

Joachim Gauck, Helga Hirsch: «Erschütterungen.» Siedler-Verlag, München 2023. 240 S., Fr. 36.90.

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