
Herr Schoeps, nach dem Angriff der Hamas auf Israel kam es in zahlreichen europäischen Städten zu antiisraelischen Demonstrationen. Judenhass unter Muslimen ist auch in Europa nichts Neues. Trotzdem: Waren Sie vom Ausmass und von der Aggressivität der Kundgebungen überrascht?
Julius H. Schoeps: Ja. Die Aggressivität ist deutlich spürbar. In einer der letzten Nächte wurden hier in Berlin zwei Molotow-Cocktails auf eine Synagoge geworfen. Ich hoffe, dass das nicht so weitergeht. Jüdische Einrichtungen werden seit Jahren von der Polizei bewacht. Und trotzdem kommt es zu Übergriffen. Nun hat sich die Lage deutlich verschärft. Was noch alles auf uns zukommen wird, ist im Moment nicht absehbar. Es ist alles möglich. Wir müssen auf alles gefasst sein.
Wie sehen Sie als jüdischer Deutscher die Reaktion Ihrer nichtjüdischen Landsleute? Für die Ukraine gab es grosse Demonstrationen, für Israel oder die deutschen Juden nicht.
Mit den Äusserungen deutscher Politiker kann man derzeit zufrieden sein. Ich bin froh, dass der Kanzler und die Aussenministerin sich um eine Deeskalation im Nahen Osten bemühen. Es ist zwar viel Symbolpolitik im Spiel, aber sie ist wichtig. Die Medien zeigen Verständnis für Israel. Aber ich befürchte, dass das nicht so bleibt. Die Stimmung kann sich schnell drehen, sodass Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern gemacht werden. Es hängt viel davon ab, was in und um Gaza geschieht.
Sie haben einmal gesagt, 15 bis 20 Prozent der Deutschen dächten antisemitisch. Wie ist das unter den in Deutschland lebenden Muslimen?
Nicht alle Muslime sind Hamas-Anhänger, es gibt Gemässigte und Radikale. Aber in den letzten Tagen hat sich die Lage verschärft: Ein Unterschied zwischen Juden und Israelis wird kaum noch gemacht. Antisemitismus ist hier in Berlin etwa unter Palästinensern, Syrern und Libanesen ein Problem, aber auch in der türkischen Gemeinschaft, die stark unter Erdogans Einfluss steht.
Wurde der muslimische Antisemitismus in Deutschland zu lange verdrängt oder kleingeredet?
Man hat jedenfalls nicht gesehen, wie gefährlich der Antisemitismus ist. Den Nahen Osten und die dortigen Konflikte hat man in Deutschland verdrängt. Jetzt merkt man, dass die unkontrollierte Zuwanderung aus den muslimischen Ländern ein Problem ist. Angela Merkel plädierte zwar für eine geregelte Einwanderung, aber seither hat sich die Welt verändert.
Müsste man nun nicht so schnell wie möglich die Zuwanderung aus dem Nahen Osten bremsen?
Die grosse Zahl der Flüchtlinge, die gegenwärtig nach Deutschland kommen, ist sicherlich ein Problem. Aber die Politiker wissen nicht, was sie tun sollen. Auf jeden Fall braucht es endlich ein europäisches Konzept in der Asylpolitik. Die Bedrohung, vor der wir stehen, ist real: Denken Sie nur an den Anschlag in Brüssel, bei dem zwei Schweden getötet wurden, oder an den Mord an einem Lehrer in Frankreich. Das alles in diesen Tagen.
Europäische Staaten zählen zu den grössten Geldgebern der Palästinenser. Damit könnten sie indirekt terroristische Aktivitäten finanziert haben. Hätte man genauer hinschauen müssen?
Hinterher weiss man es immer besser. Jetzt fragt man sich natürlich, was mit den Geldern geschehen ist. Man hätte sicher strenger kontrollieren müssen. Humanitäre Hilfen sind notwendig, das gehört sich so. Aber wie stellt man sicher, dass damit nicht Mittel frei werden, die in den Terrorismus fliessen? Die Politik befindet sich hier in einem Dilemma, das kaum lösbar sein dürfte.
Hat jüdisches Leben in Europa eine Zukunft?
Das ist eine grosse Frage. Ich meine ja, aber diese Zukunft ist an Bedingungen geknüpft. Derzeit wird nicht genügend getan, um das Leben von Juden abzusichern. Ich denke, die Sicherheitsmassnahmen für jüdische Einrichtungen müssen verschärft werden. Und Demonstrationen, wie wir sie in den letzten Tagen erlebt haben, müssten unterbunden werden.
Würden Sie Europa verlassen, wenn Sie jung wären?
Aber wohin sollte ich gehen?
Das wäre meine nächste Frage gewesen.
Ich bin in Schweden geboren, wo meine Eltern damals im Exil waren. Vielleicht ginge ich in die Schweiz? Oder in die USA? Vorausgesetzt, man würde mich dort aufnehmen (lacht).
Auch in klassischen Einwanderungsländern wie Amerika, Kanada oder Australien hat es in den letzten Tagen antiisraelische Kundgebungen gegeben.
Die BDS-Bewegung, die einen Boykott gegen Israel fordert, ist in den USA vor allem an den Universitäten stark. Das hat mit dem Gutmenschentum zu tun: Man glaubt, ausschliesslich die Palästinenser seien die Unterdrückten, die Israelis die Unterdrücker. Das ist natürlich Unsinn.
In Deutschland rufen einige nun «Free Palestine from German guilt», «Befreit Palästina von deutscher Schuld». Könnte es sein, dass manche Deutsche einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ihres Landes ziehen wollen und nun sagen: Davon lassen wir uns unseren Blick auf den Nahost-Konflikt nicht beeinflussen?
Das Gefühl, dass Deutschland eine besondere historische Verantwortung trägt, schwindet in der Tat. Olaf Scholz hat diese Verantwortung mit seinem Besuch in Israel zwar betont, aber kann man sich darauf verlassen?
Das Wissen um die deutsche Schuld und das Gebot «Nie wieder» sind für die Identität der Bundesrepublik konstituierend. Kann man das arabischstämmigen Deutschen, deren Vorfahren nicht im Dritten Reich lebten, überhaupt vermitteln?
Man muss es zumindest versuchen, auch wenn es sehr schwierig ist. Wenn ich als Syrer, Iraker oder Palästinenser nach Deutschland komme und bleiben will, muss ich mich mit der Geschichte dieses Landes beschäftigen und mich zu seinen Wertvorstellungen bekennen.
Israel wurde gegründet, um ein Zufluchtsort für die Juden zu sein. Kann es diese Rolle weiterhin spielen?
Israel ist der Zufluchtsort der Juden, und das wird auch so bleiben. Aber auch da ist etwas ins Wanken geraten. Die Attacken der Hamas konnte man nicht voraussehen. Manche kritisieren nun die israelische Regierung, die nicht wachsam genug gewesen sei. Aber solche Debatten dürfen vorerst keine Rolle spielen. Jetzt müssen Juden und Nichtjuden zusammenhalten.