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Zurich Film Festival

Zürich feiert die Kooperation mit San Sebastian – und das spanische Kino

Spanien, eine Nation zwischen Konservativismus und Umbruch, ist als Gastland auf dem ZFF mit elf Spielfilmen vertreten. Darunter finden sich auch der spanische Oscar-Beitrag und ein sensationelles Erstlingswerk.

Das Familiendrama «Alcarràs» erhielt an der Berlinale 2022 den Goldenen Bären und geht für Spanien ins Oscarrennen.
Bild: Bild: Zvg / Aargauer Zeitung

Jedes Jahr kämpfen Europas grosse Filmfestivals um Stars und Weltpremieren. Das noch bis Samstag laufende spanische Filmfestival von San Sebastián und das am heutigen Donnerstag startende Zurich Film Festival (ZFF) haben im internationalen Konkurrenzkampf jedoch ein weiteres Problem: Sie sind nicht nur kleiner als Berlin, Cannes und Venedig. Sie finden auch erst später im Herbst statt – und zudem noch fast gleichzeitig.

So unternahm man vor zehn Jahren einen für die Festivalbranche eher ungewöhnlichen Schritt. Nach dem Motto «Zusammen ist man stärker» schloss man ein Kooperationsabkommen. Seitdem teilen sich San Sebastián und Zürich die kostspieligen Anreisen internationaler Stars, deren Filme auf beiden Festivals gezeigt werden.

Eine Win-win-Situation für alle Beteiligen, meint Christian Jungen, künstlerischer Direktor des ZFF. «Die Zusammenarbeit trägt aber auch dazu bei, dass das Schweizer Kino in Spanien und das spanische Kino in der Schweiz gefördert wird und auf den jeweiligen Festivals vertreten ist», erklärt San Sebastián-Direktor José Luis Rebordinos.

Ein konservatives Land mit progressivem Nachwuchs

So ist es also kein Zufall, dass ausgerechnet Spanien auf dem ZFF das diesjährige Gastland ist. Man will das 10-jährige Jubiläum einer erfolgreichen Zusammenarbeit feiern. Bis zum 2. Oktober zeigt das ZFF in fast allen Sektionen elf abendfüllende und fünf Kurzfilme junger Filmschaffender aus Spanien.

Doch was können wir vom neuen spanischen Kino erwarten? Eine Menge, versichert ZFF-Leiter Christian Jungen. Spanien sei ein konservatives, katholisches Land mit einer gleichzeitig sehr progressiven und von der Wirtschaftskrise hart getroffenen jüngeren Generation. Sowie einer Linksregierung, die Spanien in Europa zum Vorreiter im Kampf gegen männliche Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen macht.

Gerade dieser Zwiespalt in einem Land, das zudem einige dunkle Kapitel der eigenen Geschichte wie etwa den ETA-Terrorismus und den Faschismus unter dem Diktator Franco noch nicht aufgearbeitet hat, mache das spanische Kino mit einer neuen Generation von jungen Filmemachern, die sich damit völlig unverkrampft auseinandersetzen, so spannend, versichert Jungen.

Der mitreissende spanische Thriller «Modelo 77» von Alberto Rodríguez, der vergangenen Freitag die 70. Jubiläumsausgabe von San Sebastián eröffnete und ab Donnerstag in Zürich zu sehen ist, sei ein gutes Beispiel dafür, meint Jungen. Die Geschichte spielt sich 1977 ab und beruht auf wahren Begebenheiten. Spanien erlebt nach dem Ende der Franco-Diktatur einen der grössten Freiheitsmomente seiner Geschichte. In den Gefängnissen ist vom Übergang zur Demokratie jedoch nichts zu spüren. Es kommt zu Revolten und Aufständen.

Kino als politischer Kommentar

Eine der vielleicht sichtbaren sozialen Folgen der Wirtschaftskrise sind in Spanien die Zwangsräumungen verarmender Familien. Die Kassiererin Azucena (Penélope Cruz) hat 24 Stunden Zeit, um zu verhindern, dass ihre Wohnung von der Polizei geräumt wird. Der vereinsamten Rentnerin Theodora droht dasselbe Schicksal, während der uneigennützige Anwalt Rafael versucht, den Menschen zu helfen. Regisseur Juan Diego Botto verwebt die Geschichten in seinem emotional packenden, oftmals aber zum Aktivismus tendierenden Thriller «En los márgenes / On the Fringe», der am 24. September in Zürich zu sehen ist.

Unterdessen untersucht Carla Simón in ihrem feinfühligen, oscarnominierten Familiendrama «Alcarràs» eine Mehrgenerationenfamilie zwischen Tradition und Umbruch. In dem kontemplativen Drama sieht sich eine katalanische Grossfamilie, deren Pfirsichplantage einer Solaranlage weichen soll, in ihrer Existenz bedroht. Virtuos vermischt Simón dabei politischen Kommentar, Generationenkonflikt und Emanzipationsprobleme, wofür sie bereits Anfang des Jahres auf der Berlinale den «Goldenen Bären» erhielt. «Alcarràs» ist am 24. September im ZFF-«Fokus Spanien» zu sehen und kommt am 29. September in der Deutschschweiz in die Kinos.

In Katalonien spielt auch Mikel Gurreas Spielfilmdebüt «Suro»: Elena und Ivan stehen vor einem neuen Lebensabschnitt. Sie verlassen die Millionenstadt Barcelona, um ins ländliche Katalonien zu ziehen, wo sie eine Korkeichen-Plantage übernehmen. Leise und subtil behandelt Gurrea den Konflikt zwischen Stadt und Land, Wunsch und Wirklichkeit sowie aufeinanderprallende Geschlechterrollen. Nach seinem Auftritt in San Sebastián feiert «Suro» am 26. September im Spielfilm-Wettbewerb des ZFF seine internationale Premiere.

Adrian Silvestres bietet hingegen in «My Emptiness and I» eine einnehmende Analyse von eigener und gesellschaftlicher Akzeptanz von Transfrauen, während sich Andrea Bagneys romantische Komödie «Ramona» humorvoll der Liebe, Karriere – und was beidem im Weg steht – nähert. Beziehungen und unausgesprochene Gefühle stehen auch im Mittelpunkt von Jonás Truebas «You Have to Come and See It». Die verstörende, aber sehenswerte Horrorsatire «Piggy» von Carlota Pereda setzt sich auf dem ZFF mit Mobbing und Gewalt unter Jugendlichen auseinander.

Grosses Lob für einen Erstling

Was es bedeutet, Mutter zu sein, wenn man selbst noch ein Kind ist, fragt sich hingegen Pilar Palomero in «La Maternal /Motherhood». Nach San Sebastián kann man die einfühlsame und herzzerreissende Reise in die Teenager-Elternschaft in Zürich sehen. Ihre emotionelle Achterbahnfahrt gilt als ernst zunehmender Anwärter für die «Goldene Muschel», die am Samstag in San Sebastián vergeben wird.

Auf keinen Fall sollte man in Zürich das beeindruckende Erstlingswerk «Cinco Lobitos» von Alauda Ruiz de Azúa verpassen. Einfühlsam und lebensnah beschreibt die Regisseurin darin die Herausforderungen junger Eltern von heute. Ein aufwühlender, berührender Film, den sogar Spaniens Kult-Regisseur Pedro Almodóvar als «bestes spanisches Erstlingswerk seit Jahren» bezeichnete.

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