Also doch ein Favoritensieg. Im SRF-Publikumsvoting, im Kritikerrating des «Tages-Anzeigers» und in unseren eigenen CH Media-Titeln schwang der Text von Zora del Buono obenaus. Triumphiert hat aber auch eine starke Literaturbewegung: die autobiografische Recherche. Dass mit Annie Ernaux eine Autorin, die für ihre autobiografischen Bücher bewundert wird, gar 2022 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war dafür nur das lauteste Ausrufezeichen. Die konventionelle Erwartung an Literatur, die sich auf fiktionale Texte beschränkt, wird dadurch herausgefordert. Man darf es der Buchpreis-Jury hoch anrechnen, einen Text auszuzeichnen, der diese Literatur-Konvention mit Leichtigkeit, Klugheit und Spannung aufbricht, ohne ein reines Sachbuch zu werden.
Die Frage nach Schuld, Verlust und Versöhnung
Die Buchpreis-Jury begründet ihren Sieg damit, dass del Buono «einen Text geschrieben hat, der alle betrifft, obwohl er vom Tod ihres Vaters handelt. Dieser starb bei einem Autounfall, als sie acht Monate alt war. Sechzig Jahre später macht sich die Autorin auf die Suche nach seinem ‹Töter›.
Mit überraschender Leichtigkeit verflicht sie in diesem dicht komponierten Rechercheroman Statistiken, Gerichtsdokumente und Szenen aus ihrem Leben. In einer eigenständigen Sprache verhandelt del Buono die Frage nach Schuld, Verlust und Versöhnung. ‹Seinetwegen› ist ein leiser, unprätentiöser Text voll existenzieller Wucht.»
Dass mit «Seinetwegen» ein herausragender Text gelungen ist, wird beim Wiederlesen noch deutlicher. Die existenzielle Dringlichkeit der Erinnerungs- und Recherchearbeit und die private, ja psychologisch intime Darlegung der Erfahrung werden hier so ausgeweitet, dass ein packender Essay entsteht. Darin haben eine Reihe von Themen Platz: das Aufwachsen als «Ausländerkind» ohne Vater, die schockierend hohe Zahl an Toten und Schwerverletzten durch Autounfälle, trotz allem die eigene Liebe zum Autofahren, die Demenz der Mutter, die Isolation einer alleinerziehenden Frau in den 1960er-Jahren, die «Deformation» durch Schicksalsschläge, die Geschichte der Homosexualität (der unfallverursachende Raser war wahrscheinlich homosexuell), die Archive und Altersheime (wo del Buono recherchiert hat).
«Ich war selbst mitten in diesem Krimi»
Verblüffend ist auch, dass sich das Buch immerzu spannend liest, obwohl alle diese Themen in einzelnen Sequenzen aufeinanderfolgen. Stilistisch seien ihr dabei die vielstimmigen, Genres vermischenden Tagebücher von Max Frisch Vorbild gewesen, verriet sie in ihrer Lesung am Samstag.
Die Spannung habe aber noch einen anderen Grund: «Ich habe während der Recherche laufend geschrieben, sodass ich selbst mitten in diesem Krimi drin war.» Denn durch Zufälle und Glücksfälle kommt sie dem «Töter» E. T. immer näher. Dass dieser allmählich vom Monster und Hallodri zu einem Menschen wird, der wegen seiner Schuld jahrzehntelang nicht mehr Auto gefahren ist, macht dieses Buch so menschenfreundlich. Unversöhnlich, ja zornig, bleibt «Seinetwegen» trotzdem. Jungen Männern, und diese seien ja vor allem Unfallverursacher, sage sie immer wieder: «Macht euch nicht unglücklich! Wenn ihr jemanden totfährt, ruiniert ihr auch euer eigenes Leben.»
«Uralt im Literaturbetrieb, 45-jährig» sei sie gewesen, als ihr erstes Buch erschien, sagte Zora del Buono in ihrer kurzen Dankesrede nach der Verleihung. Als Architektin und Journalistin kam sie erst in ihrer Arbeit bei der Zeitschrift «Mare» mit literarischem Schreiben näher in Kontakt. 15 Jahre später also nun einer der wichtigsten Preise im Literaturbetrieb. Das Preisgeld beträgt immerhin 30’000 Franken. Die anderen Nominierten, Mariann Bühler, Béla Rothenbühler, Michelle Steinbeck und Martin R. Dean, erhalten je 3000 Franken.
Zora del Buono stellt am kommenden Samstag, 23. November, um 20 Uhr auf der Rathausbühne Willisau, ihre beiden Bücher «Die Marschallin» und «Seinetwegen» vor. Der Eintritt kostet 20 Franken.


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