Doch es gab immer auch einschneidende Phasen, Umbruchzeiten, in denen sich Städte radikal veränderten. Beispielsweise um 1900. Als es galt, Platz für das eben erfundene Automobil und für Trams zu schaffen, aber auch Wohnraum für die – als Folge der Industrialisierung – rasant wachsende Bevölkerung und die dafür nötigen öffentlichen Gebäude. Alles immer unter der Prämisse von «Schönheit, Volksgesundheit und Wirtschaftlichkeit», wie es 1908 in der vorbildhaften Wettbewerbsausschreibung für «Gross-Berlin» hiess. Das ab 1918 oft auch in demokratischen statt monarchischen Systemen.
Das brauchte Visionen und einen umfassenden Gestaltungsanspruch, wie der eben erschienene Band aus der Reihe «Stadtbaukunst» an den Beispielen von Amsterdam, Brüssel, London, Paris, Prag London und Zürich ausführt. Auffällig sei, dass die gros- sen städtebaulichen Herausforderungen «nicht zu einem Zurückschrauben der Ansprüche, sondern zu einem Höhersetzen der kulturellen Ziele geführt haben», schreibt Herausgeber Wolfgang Sonne. Leitfragen des Buches, der Autoren: Wer machte die Planung? Nach welcher Ideologie/Haltung? Mit welchen Resultaten?
Unbegrenzt oder kleinteilig
Eingemeindungen haben den Städten Schub gebracht, in Zürich wie in Wien, Amsterdam oder Brüssel. Sie erlaubten Wachstum, verlangten aber auch eine grössere Gesamtsicht. In Wien wurde 1890 eine Bauordnung geschaffen, die unterschiedliche Zonen definierte, unterschiedliche Gebäudehöhen festlegte und Nutzungen (Wohnen, Gewerbe) teilweise trennte, um in den Wohnquartieren die Hygiene zu verbessern.
Durch diese Ausdehnung stellte sich in den meisten Orten auch die Frage, was auf dem gewonnenen Raum der alten Befestigungsanlagen geschehen soll: Ringstrassen, Grüngürtel oder Bebauung? Diese Entscheide wirken bis heute – und haben entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität der Städte. Ebenso die Gliederung der Stadt: So schlug etwa Otto Wagner beim Wettbewerb um den Wiener Regulierungsplan kurz vor der Jahrhundertwende lange, gerade Strassenachsen durch das Zentrum vor. Ihm schwebte im Grunde der Kern einer «unbegrenzten Grossstadt» vor. Ausgeführt wurde stattdessen ein zweiter Ring, der (unvollendete) Gürtel als breiter Boulevard, der Vorstadt und Stadt mehr verbindet als trennt.
Die Erweiterung Amsterdams dagegen stand ganz im Zeichen des Wohnungsbaus. Mit dem «Wonigwet» (Wohnbaugesetz) von 1902 sollten Raumnot, aber vor allem auch die hygienischen Missstände beseitigt werden. Nur was gesellschaftlich nützlich ist, könne auch schön sein: Nach diesem Motto agierte Stadtbaumeister Hendrik Berlage. Neue Quartiere und genossenschaftliche Zeilenbauten entstanden. Bauten, etwa von Michel de Klerk, galten als architektonisch wegweisend und wurden zu Ikonen. Die Monotonie der neuen Grossstädte war Berlage ein Gräuel: Er setzte in seinem Stadterweiterungsplan auf abgeknickte Strassen, geschlossene Plätze und unregelmässig gestaltete Blockformen.
Sozial oder monumental
Im Vergleich zu Amsterdam, London oder Paris wurde in Zürich kleinräumiger geplant. Allerdings hatten Arnold Bürkli ab den 1860er-Jahren mit dem Hauptbahnhof sowie den Quais am Seebecken und Gottfried Semper mit dem dominanten Polytechnikum (ETH) der Stadt bereits ein neues Gepräge verpasst. Repräsentanz oder demokratische Stadt? Das war danach die Kernfrage. Gustav Gull war als Architekt und Stadtbaumeister ab 1895 die dominante Figur: Er baute repräsentative Gebäude: wie das Landesmuseum und das Stadthaus (anstelle des Fraumünsterklosters). Anders seine Nachfolger Friedrich Fissler (ab 1900) und Hermann Herter (ab 1919) sowie der tonangebende Stadtrat und Stadtpräsident Emil Klöti (SP): Von ihrem Plan für «Gross-Zürich» blieb in der wirtschaftlich schwierigen Zwischenkriegszeit vieles nur Idee. Sie fokussierten auf neue Siedlungsstrukturen vor allem in den eingemeindeten Dörfern: Sozialer Wohnungsbau, zweckmässige Verkehrserschliessung, Freiflächen und Schulbauten in überschaubaren Quartierstrukturen waren ihr Credo. Das prägt Zürich bis heute.
Bei allen Unterschieden der untersuchten Städte wird klar: Je grösser eine Stadt, desto wichtiger sind Generalplanungen, Gesamtsichten. Auch wenn die einzelnen Stadtteile unregelmässig dicht oder schnell wachsen. «Mach keine kleinen Pläne, sie bringen das Blut nicht in Wallung und werden vielleicht nicht realisiert», postulierte Daniel H. Burnham, der visionäre Planer von Chicago um 1910.
Und heute? Geht es ohne Masterplan – und im Vertrauen auf gute Architektur – wie in London? Oder zerfleddert die Innenstadt in Einzelteile, geprägt von einigen populären Signalbauten. Soll man mit Begrenzungen und Auflagen Homogenität anstreben, das Gesamtbild der Stadt, wie sie um 1900 geplant und gebaut wurde, erhalten und nur punktuell verdichten oder erhöhen wie in Paris? In wiederum hundert Jahren werden wir besser beurteilen können, welche Massnahmen was bewirkt haben, welche Bestand hatten und sozial sind.
Grossstadt gestalten. Stadtbaumeister in Europa Hg. Markus Jager und Wolfgang Sonne (Deutsches Institut für Stadtbaukunst). Deutsch und englisch, Dom Publishers, 2018, 224. Seiten.
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