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Theaterleiter

«Was Erfolg hat, wird oft als wertlos angeschaut. Welch' arrogante Logik!»

Daniel Rohr führt in Zürich ein Theater, das beim Publikum hervorragend ankommt. Für diesen Erfolg werde er bei der Subventionsverteilung abgestraft, kritisiert er. Im Interview spricht Rohr über falsch verstandene Diversität und die Arroganz der Kulturpolitik.

Die Aussicht über den Zürichsee ist spektakulär. Der Besuch im Theater Rigiblick oberhalb von Zürich ist eine Art Urlaub. Nicht für den Gastgeber Daniel Rohr (64) allerdings, der hier vor rund 20 Jahren eine unbedeutende Bühne übernommen hat, sie umkrempelte und heute das erfolgreichste Theater-KMU der Schweiz führt.

Daniel Rohr im Theater Rigiblick. Das Bühnenbild gehört zur aktuellen Produktion «Tribute to Johnny Cash».
Bild: Sandra Ardizzone

Rohr holt an sein Haus grosse Namen wie Martin Suter, Stephan Eicher, Pepe Lienhard. Aktuell wird im Garten Open Air gespielt, mit dabei auch Christian Jott Jenny.

Nahezu sämtliche Theater kämpfen gegen leere Reihen. Sie nicht, die Vorstellungen im Rigiblick sind zu rund 90 Prozent ausverkauft. Was machen Sie besser?

Daniel Rohr: Zunächst einmal verstehen wir uns als Geschichtenerzähler. Wir wollen nicht belehren, sondern die Geschichten für sich selbst sprechen lassen. Unser Theater ist verständlich. Und es berührt; Menschen wollen berührt werden. Das postmoderne Theater hingegen nimmt die Leute oft nicht mehr mit, sie verstehen nicht mehr, worum es eigentlich geht.

Was heisst: Sie wollen nicht belehren?

Nicht von oben herab didaktisch sein. Eine Haltung haben – das ist etwas anderes. Wir haben eine Haltung, auch eine politische. Aber wir zwingen sie niemandem auf.

Worin besteht Ihr Erfolgsrezept sonst noch?

Ich würde zwei Dinge hinzufügen. Sicher ist die Musik ganz wichtig. Sie ist ein Schlüssel fürs Herz. Wir kombinieren immer Text mit Musik – es ist das Transportmittel für Emotionen, das stimmt für Klassik ebenso wie für Jazz oder Rock. Und nächste Saison machen wir eine Reihe mit Hip-Hop, kuratiert von jungen Leuten, die die ganze Schweizer Rap-Szene einladen. Als Zweites möchte ich aber auch die Gastfreundschaft erwähnen, die uns sehr wichtig ist. Schon an der Kasse sollen die Gäste mit einem Lächeln empfangen werden, und bei uns sind immer alle Künstlerinnen und Künstler nach der Vorstellung noch im Foyer, wir sind alle ansprechbar.

Wie hoch ist der Druck, Hits zu produzieren, die Ihr Theater Tag für Tag füllen?

Enorm gross. Wir sind ein Kleinbetrieb und bekommen sehr wenige Subventionen: Rund 650’000 Franken pro Jahr von der Stadt Zürich. 200’000 Franken gehen schon mal für die Miete weg. Bleiben 450’000 Franken für den Betrieb. Allein für Löhne unserer Festangestellten wenden wir jedoch 1,3 Millionen Franken auf. Ich muss also nur schon mal 900’000 Franken auftreiben, um unsere Löhne zu bezahlen – mit Tickets, Sponsoring und Vereinsbeiträgen.

Grössere Theater wie das Schauspielhaus oder das Neumarkt haben die Löhne komplett durch Subventionen gedeckt.

Genau. Wir hingegen müssen zuerst zusätzliches Geld auftreiben, um die Lohnkosten im Betrieb zu decken. Anschliessend müssen wir dann erfolgreich arbeiten, um die Produktionen, die Werbung und alle übrigen Ausgaben zu begleichen.

Ist Ihr Theater ein Opfer des eigenen Erfolgs?

Absolut. Wenn eine Produktion nicht läuft, kann ich die Gehälter nicht mehr bezahlen. Das setzt uns unter gewaltigen Erfolgsdruck. Wir müssen immer Hits produzieren. Vielleicht aber zum Vergleich: Das Schauspielhaus Zürich hat in der Ära von Blomberg/Stemann 22/23 bei 39 Millionen Subvention 94’000 Zuschauer, wir hatten in derselben Zeit bei 650’000 Franken Subventionen 43’000 Zuschauer, also fast die Hälfte. Nun wurden wir aber vom Präsidialdepartement der Stadt Zürich in den Subventionen noch gekürzt. Wir sind praktisch jeden Abend ausverkauft, wir haben eine Auslastung von 93 Prozent, was bedeutet: Wir können nicht noch mehr Geld mit Tickets generieren.

Charmant auch von aussen: Das Zürcher Theater Rigiblick.
Bild: Bild. Sandra Ardizzone

Warum bekommen Sie weniger Subventionen?

Die Stadt Zürich hat die Theater in zwei Gruppen unterteilt. In einen fixen und einen flexiblen Pool. Die fixen wie das Schauspielhaus, die Gessnerallee oder das Neumarkt haben das Geld auf sicher. Die flexiblen – nebst uns etwa auch Stadelhofen oder Winkelwiese – müssen neuerdings in einem Wettbewerb gegeneinander antreten. Eine Jury beurteilt ein Konzept, das das jeweilige Theater einreicht. Weil aber neue Akteure dazukamen, wurden die Kuchenstücke kleiner. Das hat als Nebeneffekt auch die Folge, dass sich die eh schon schwächeren Theater in einer Konkurrenz sehen, statt miteinander zu arbeiten; das Gegenteil von dem, was die Stadt wollte.

Wenn Sie weniger bekommen, war die Jury offenbar nicht zufrieden mit Ihrem Angebot.

Nur drei der sieben Jurymitglieder haben im Evaluationsprozess unser Theater überhaupt einmal besucht: Theater muss man doch sehen, hören, schmecken. Wir wurden nur aufgrund des Konzeptes beurteilt.

Und was haben sie kritisiert?

Entscheidend für die Höhe der Subventionen werden die Konzepte nach Massstäben wie Innovation, Diversität, Inklusion, Nachhaltigkeit beurteilt. Ich finde das persönlich alles wichtige Anliegen, aber müssten nicht auch wirtschaftliche Kriterien zum Tragen kommen? Auslastung, Publikumszahlen insgesamt? Eigenleistung? Anzahl der Künstlerinnen und Künstler, Anzahl Spieltage? Aber um Ihre Frage zu beantworten: Uns wurde vorgeworfen, wir seien zu wenig innovativ ...

… also zu wenig links?

Es geht nicht um rechts oder links. Der künstlerische Kanon ist auf eine bestimmte Ästhetik ausgerichtet, diese ist aktuell schrill, grell, laut, assoziativ.

Sodass man nichts mehr versteht?

Das sagen Sie. Aber vielleicht läuft es leider oft darauf hinaus.

Was verstehen denn Sie unter Innovation?

Wir haben mit der Tribute-Reihe eine neue Musik-Theater-Gattung kreiert. Wir verstehen aber auch Diversität etwas anders: Wir versuchen, die Schwellenangst, die viele Leute dem Theater gegenüber haben, abzubauen. Bei uns sitzen im Theater eine Taxifahrerin neben einem Strafrechtsprofessor und in derselben Reihe auch ein Garagist. Wir haben Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Zu uns kommen alle!

Alle Schichten – aber vor allem ältere Leute.

Ja haben ältere Menschen kein Recht auf Theater? Aber nebenbei: Wir tun auch für Junge vieles – ich habe die Hip-Hop-Reihe schon erwähnt. Wir haben sehr tiefe Eintrittspreise für Besuchende unter 30 Jahren, die sehr rege in Anspruch genommen werden. Vielleicht darf ich aber noch kurz etwas anderes zum Begriff Innovation sagen!

Bitte schön.

Ist Innovation nur künstlerisch zu verstehen? Ist es nicht innovativ, dass wir bei Corona-Ausbruch zuerst alle 120 Künstlerinnen und Künstler angerufen haben und ihnen gesagt haben: Wir sind da für euch, wir stützen euch. Wir haben sofort bei Mäzenen 600’000 Franken aufgetrieben, diese wurden an notleidende Künstlerinnen und Künstler von uns verteilt. Wir haben vier Produktionen für die Zeit nach Corona aus dem Boden gestampft, um Sinn und Arbeit zu stiften. Wir haben in dieser Zeit ad hoc ein Open Air gegründet. Ist das nicht innovativ?

Musiktheater im Rigiblick: Pepe Lienhard hat die Musik geschrieben, Nubya und andere singen. Vorstellung open air am 8. Juli.
Bild: T + T Fotografie

Unterhaltendes Theater wird oft als nicht innovativ angesehen.

Die Unterscheidung zwischen U und E – also zwischen Unterhaltungskunst und Ernster Kunst – ist ein Phänomen des deutschsprachigen Raums. In England und Frankreich gibt es das nicht. Läuft in London eine Komödie, die Supererfolg hat, sagt dort niemand abwertend: «Das ist Unterhaltung.» Was ich oft wahrnehme, ist folgende Gleichung: Wer Erfolg hat, ist U.

Was Erfolg hat, kann intellektuell nicht bedeutend sein: Unter diesem Vorurteil leiden nicht nur Sie, sondern auch Bestseller-Autor Martin Suter, dessen «Melody» bei Ihnen lief.

Was Erfolg hat, wird oft als wertlos angeschaut. Welch arrogante Logik! Ich habe mich intensiv mit Martin Suter auseinandergesetzt. Wenn man «Melody» wirklich genau liest, erkennt man, wo die Hauptfigur lügt und wo sie die Wahrheit sagt. Die Sprache ist so fein, die Story so grossartig gebaut.

Die Schweiz ist Weltmeisterin des Volkstheaters, das literarische Theater hatte es immer schwer. Ihr Haus ist ein Volkstheater, das «Volk» identifiziert sich mit Ihrem Programm ...

... noch heute reden die Menschen von Heinrich Gretler und «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich vor 90 Jahren. Nicht nur Volkstheater, auch Hochkultur könnte also Identität stiften. Ich behaupte auch, das Theater Rigiblick ist sowohl ein unterhaltendes als auch ein politisches Theater, es macht politische Vorgänge für das Publikum verständlich.

Es ist durchaus möglich, dass populäre Kultur von der U-Abteilung später in die E-Abteilung wechselt und im Feuilleton landet. Bei Peter Bichsel, Martin Suter und Udo Jürgens war das so. Das könnte Ihnen auch passieren.

Das mag für die Musik und die Literatur gelten. Theater ist die Kunst des Augenblicks. Inszenierungen von früher, etwa alte Fernsehaufzeichnungen, schaut sich niemand an. Was ich aber aktuell in Bezug auf das Rigiblick merke, ist: Ausländische Theater nehmen uns wahr. Das Theater Bielefeld spielt unsere Stücke nach. Am Theaterhaus Stuttgart hatten vor einigen Wochen die vier Beatles-Produktionen bei Gastspielen jeden Abend Standing Ovations von 800 Menschen.

Ins Theater zu gehen, ist keine gesellschaftliche Verpflichtung mehr. Übrigens ähnlich wie der Konsum von Zeitungen. Das Publikum hat sich emanzipiert und abgewandt, weil es sich von diesen Angeboten nicht mehr gemeint fühlt ...

Die Leute erleben sich von Streaming-Angeboten besser aufgehoben als von der Hochkultur, ich verstehe das absolut. In Teilen der Politik findet aber ein Umdenken statt, man stellt den Wert von Kultur fest, die kommerziell erfolgreich ist. Menschen dürfen sich nicht zu dumm fühlen vor Kulturangeboten, aber so funktioniert ein Teil der Hochkultur weiterhin. Die Zürcher Verwaltung versucht mit ihren Forderungen nach Innovation, Diversität und so weiter eine dirigistische und praxisfremde Politik durchzudrücken.

«Sternstunde Kunst» vom 10.11. 24 über Daniel Rohr.

Ist eine abgehobene Theater-Jury-Ideologie, die Geld verteilt, überhaupt noch zeitgemäss?

Sagen wir es so: Die Verwaltung wollte uns ursprünglich einen Drittel der Betriebsmittel streichen. Stellen Sie sich vor, man würde dem Schauspielhaus einen Drittel der Mittel streichen; das wären 13 Millionen; das Wehklagen wäre gross. Glücklicherweise hat der Stadtrat den Vorschlag der Jury noch leicht korrigiert.

Sie werden 65 Jahre alt, gibt es Fehler, Irrtümer?

Vielleicht verlange ich aus lauter Begeisterung manchmal zu viel von meinen Leuten, weil ich mich selbst mit der Arbeit so identifiziere. Doch ein 9/5-Job kann sich hier niemand leisten.

Künstlerische Versäumnisse keine?

Doch, ich habe noch keinen Abend über Janis Joplin oder die Rolling Stones gemacht!

Ein Powercouple: Hanna Scheuring (60), Schauspielerin und Leiterin des Bernhard-Theaters und Daniel Rohr (64) in ihrem Zuhause im Zürcher Oberland.
Bild: T + T Fotografie

Sie sind ein Arbeitstier, woher holen Sie Ihre Energie?

Das Rezept ist: Ich habe ein Superteam, eine Beziehung, die mich zutiefst erfüllt und bin identisch mit dem, was ich mache. Ich bin sehr dankbar für das Leben, das ich habe. Müsste ich heute im Theater aufhören, würde ich für BirdLife Freiwilligenarbeit leisten: Wenn man jung ist und wenn man alt ist, muss man der Gesellschaft etwas zurückgeben.

Sie waren schon immer ein Glückskind?

Natürlich nicht. Meine Eltern liessen sich früh scheiden, und ich musste die Rolle des Vermittlers spielen. Damals wollte ich Clown werden, um meine Eltern aufzuheitern. Als Theaterleiter bin ich möglicherweise so familiär, weil ich im Theaterbetrieb auch Hauen und Stechen erlebt habe.

65 ist normalerweise ein Alter, in dem man sich pensionieren lässt. Ausser man ist Künstler oder Unternehmer ...

Ich bin beides.

... Ihr Vertrag geht noch über fünf Jahre. Was ist dann?

Natürlich steht im Raum, dass ich ein älterer weisser Mann bin, der mit 65 Jahren Platz machen sollte, und ich bin schon jetzt bemüht,  einen sanften Übergang aufzugleisen- Wir sind dafür laufend mit kreativen Menschen im Gespräch und suchen Zusammenarbeiten. Aber auch wenn Theater für mich ein Lebenselixier ist, ich möchte mehr Zeit haben für Literatur, Philosophie, für spirituelle Dinge, Natur und für meinen Enkel. Eines der Projekte meiner Frau und von mir ist es, von zu Hause im Zürcher Oberland aus bis nach Sizilien zu wandern. Aber das sind Zukunftspläne, im Moment geniesse ich jede Minute auf und neben der Bühne.

Keine Träne, wenn Sie dieses Haus verlassen werden?

Es schleckt keine Geiss weg: Dieses Theater habe ich aufgebaut, es ist mein Zuhause. Ich liebe das Theater über alles, aber loslassen müssen wir alle einmal. Es ist gut, wenn man es rechtzeitig lernt.

Das Zürcher Theater Rigiblick spielt bis 12. Juli open air, www.theater-rigiblick.ch

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