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Lügenforschung

Warum Lügen gar nicht so schlimm ist

Tests zeigen: Moralischer Verfall entspringt eher der Zeitnot als dem Charakter. Damit wird Lügen quasi salonfähig, denn: Es ist der hektische Lebensstil, der uns dazu zwingt. So sollen Erwachsene alle zehn Minuten mindestens ein Mal lügen.
Ein Mini-Pinocchio steckt in uns allen – und unsere Nase ist beim Lügen besser durchblutet.
Bild: Istockphoto

Schon Nietzsche stöhnte: «Die Menschen lügen unsäglich oft.» Und er hatte wohl recht. Denn die modernen Wissenschaften bestätigen: Der Mensch ist ein Lügenbold – und er ist es mehr denn je, weil der moderne, hektische Lebensstil ihn dazu zwingt.

Robert Feldman von der Universität Massachusetts lud 121 Studenten zu einem zehnminütigen Gespräch mit einem ihnen unbekannten Menschen, dem sie sich als sympathisch oder kompetent präsentieren sollten. Das Treffen wurde aufgezeichnet und anschliessend den Studenten vorgespielt, die dann selbst ihre Lügenquote einschätzen durften. 60 Prozent gaben dabei unumwunden zu, kleinere oder grössere Lügen eingestreut zu haben. «Insgesamt waren die Studenten selbst überrascht, wie oft sie flunkerten», berichtet Feldman. Ihre durchschnittliche Lügenquote lag bei 2,9 – und das bei einem Gespräch, das gerade mal zehn Minuten dauerte. In einem weiteren Test bat der Psychologe seine Probanden erneut zu einem Gespräch mit einem Unbekannten. Der einen Hälfte wurde gesagt, dass sie ihren Gesprächspartner niemals wiedersehen würden, der anderen, dass noch drei weitere Treffen folgen würden.

Lügen dienen als sozialer Kitt

Wer nun vermutet, dass unter denjenigen, die ihre Gesprächspartner nie wieder zu treffen glaubten, besonders oft gelogen wurde, ist auf dem Holzweg. Denn die Lügenquote preschte in beiden Fällen auf fast 80 Prozent. Und die weiblichen Probanden flunkerten sogar besonders fleissig, wenn sie von weiteren Treffen ausgingen. Offenbar war ihnen das Lügen als sozialer Kitt bedeutsamer als das Risiko, durch die wiederholten Gespräche als Lügnerin blossgestellt zu werden.

Was bereits ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass es weniger die typische Lügnerpersönlichkeit als das typische Lügnerumfeld gibt. Dazu gehört auch, dass in der Jugend öfter gelogen wird als im Alter, wenn man niemandem mehr etwas beweisen muss. Das amerikanische Josephson Institut für Ethik kommt nach regelmässigen Erhebungen an fast 30000 High-School-Mitgliedern zu dem resignierten Schluss: «Der Betrug an der Schule ist längst zügellos geworden – und es wird immer schlimmer.» In Deutschland dürfte die Situation ähnlich aussehen. Dafür sprechen Websites
wie www.spickzettel.de und www.schoolunity.de, auf denen man lernen kann, wie man sich per Handy, beschriftete Wasserflaschen oder neuerdings unleserliche UV-Spicker durch Prüfungen mogelt.

Verabschieden sollte man sich allerdings von der Vorstellung, dass es sich bei Lügnern durchweg um verdorbene Gesellen handelt, die aus rationalem Kalkül heraus handeln. Denn Menschen lügen, wie man an der Universität Amsterdam ermittelte, eher instinktiv als reflektiert.

Zeitdruck steigert die Lügenquote

Das Team um den Psychologen Shaul Shavi gab seinen 76 Probanden einen Würfelbecher, in dem man durch ein kleines Loch auf die Würfel gucken konnte. Dann sollten sie insgesamt dreimal würfeln und dem Versuchsleiter sagen, welche Zahl dabei herausgekommen ist. Allerdings wurde ihnen für jeden erwürfelten Punkt auch noch Geld angeboten, sodass jeder Einzelne vor der Entscheidung stand, ob er schummelt und abkassiert oder aber ehrlich bleibt und weniger entlohnt wird.

Für die Entscheidung bekamen die Probanden unterschiedlich viel Zeit: Die einen sollten das Würfeln binnen 20 Sekunden zu Ende bringen, während die anderen kein Limit gesetzt bekamen. Die Gruppe unter Zeitdruck erwürfelte, jedenfalls laut eigenen Angaben, einen durchschnittlichen Wert von 4,6, während die Gruppe ohne Zeitdruck nur 3,9 erreichte, was halbwegs in der Nähe des statistischen Erwartungswertes von 3,5 liegt.

E-Mails unehrlicher als Briefe

Wer also länger nachdenken kann, bleibt eher bei der Wahrheit. Umgekehrt könnte dies aber auch bedeuten, dass in einer Epoche, die zunehmend von Zeitdruck geprägt ist, alles auf eine einsteigende Lügenquote hinausläuft.

Und tatsächlich: Laut einer Studie der University of Carolina wird in
E-Mails um etwa 50 Prozent mehr gelogen als im klassischen Brief. Was laut Studienleiter Charles Naquin nicht nur für passionierte Internet-User schlechte Nachrichten sind, sondern auch fürs Finanzamt: «Steuererklärungen, die online ausgefüllt wurden, könnten deutlich mehr Betrügereien enthalten als solche, die auf Papier eingereicht werden.»

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