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Gastbeitrag

Verantwortung – mehr als ein Zauberwort unserer Zeit?

Jeder und jede redet heute über Verantwortung – angesichts von Klimawandel, neuer atomarer Bedrohung und Künstlicher Intelligenz kein Wunder, sagt Literaturwissenschaftler Mario Andreotti. Doch was meint das für jeden einzelnen von uns?
Verantwortung: etwas, das jeder vor sich selbst übernehmen muss.
Bild: Getty

Seit der Erschütterung des Fortschrittsglaubens wurde der Ruf nach Verantwortung aktuell. Es war, als mit dem Beginn der 1970er Jahre alles von «Rezession» zu sprechen begann, die Wirtschaftskommentare ins Jammern kamen und im Nebel der Entwicklung sondierten, ob die «Talsohle» schon erreicht sei. Es war, als das Wort «Umwelt» aufkam, meist verwendet mit leicht pädagogischer Drohgebärde, als man sich vom «Leben» ab und dem «Überleben» zuwandte, als man an den Wänden das apokalyptisch anmutende «No future» lesen konnte. Seitdem spricht alle Welt von Verantwortung.

Die Situation unserer heutigen Welt ist durch einen sonderbaren Gegensatz gekennzeichnet: zum einen dadurch, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt die menschliche Verfügungsgewalt ausserordentlich gesteigert hat, zum andern aber auch dadurch, dass wir immer schmerzlicher spüren müssen, wie schnell dieser gleiche Fortschritt in Bedrohung umschlagen kann.

Nur allzu deutlich wurden uns die Stationen dieser Bedrohung während der letzten fünfzig Jahre vor Augen geführt: Ressourcenschädigung, Waldsterben, Klimawandel, atomare Katastrophen, wie wir sie 1986 in Tschernobyl und im März 2011 in Fukushima erleben mussten; sie alle dämpften das Vertrauen in den linear gedachten Fortschritt, ja führten gar zu einem globalen Vertrauensverlust. Denn die neuen Technologien - dazu gehört auch die künstliche Intelligenz (KI) - können irreversible Folgen haben, Folgen, die teilweise gar nicht mehr voraussehbar sind. Das Bewusstsein, dass der Untergang der menschlichen Gattung, angesichts der jüngsten Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, machbar geworden ist, wurde damit wohl zum schrecklichsten Merkmal unserer Zeit.

Mario Andreotti
Bild: Biild: zvg

Was heisst das nun für uns, für unsere Verantwortung? Verantwortung haben, Verantwortung übernehmen: Das meint zuallererst, sich dessen bewusst zu sein, dass heute im Atomzeitalter nicht irgendeine menschliche Errungenschaft, sondern die Menschheit selber auf dem Spiel steht, dass uns die Entscheidung aufgezwungen ist, ob es eine zukünftige Geschichte der Menschheit gibt oder nicht.

Selbstverständlich können wir hier als Einzelne nicht die Welt verändern, wären demzufolge Weltveränderungsszenarien fehl am Platz. Aber wir können dieses Wissen in unser Leben hineintragen, können es beispielsweise im Schulunterricht auf fast allen Stufen fruchtbar machen.

Es wäre geradezu spannend aufzuzeigen, was die einzelnen Fächer und Fachbereiche hier leisten können: von der Biologie, die auf die Grenzen menschlicher Verfügung über die Natur hinweist und so ein neues Umweltbewusstsein fördert, über Physik und Chemie, die uns einen verantwortungsvollen Umgang mit dem apokalyptischen Potential der Technik lehren. Über die Philosophie, die, angesichts der Frage nach einem menschenwürdigen Überleben der Menschheit, die Grundlagen für eine Zukunftsethik schafft, bis hin zur Literatur, die uns an unzähligen Werken seit dem Beginn der Moderne um 1900 die bedrohte Endlichkeit des Menschen, seinen Platz ganz am Rande des Universums, wie der Schriftsteller Botho Strauss sich ausgedrückt hat, radikal bewusst werden lässt.

Nun sind wir aber nicht nur für etwas, sondern auch vor etwas verantwortlich. So muss sich beispielsweise eine gewählte Regierung vor dem Parlament, aber auch vor ihren Wählern verantworten. Gerade heute, wo die Demokratie von verschiedener Seite in Gefahr ist, wo sich das Recht des Stärkeren durchsetzt, gehört dieser Forderung besondere Beachtung.

Es gibt die Verantwortung des Einzelnen vor dem Staat, vor der Gesellschaft, ja sogar vor der Geschichte, und es gibt sie vor dem eigenen Gewissen, eine Verantwortung, die wir seit Immanuel Kants kategorischem Imperativ als «Selbstverantwortung» bezeichnen. Wenn der Liberalismus die klassische Formel von der «Freiheit in Verantwortung» zu seinem Hauptanliegen erhoben hat, dann meinte er nichts anderes als diese Selbstverantwortung des Einzelnen.

Und es gibt schliesslich - sprechen wir es ruhig aus – für Christinnen und Christen die Verantwortung vor Gott, die wir, weil wir die metaphysische Dimension weitgehend eingebüsst haben, nur allzu gerne ausblenden.

Mario Andreotti ist Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor.

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