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Sturm auf den Bundestag: Dieser Krimi ist «Sprengstoff» und sorgt in Deutschland für Furore

Als Känguru-Chronist wurde Marc-Uwe Kling berühmt. Doch er kann auch Krimi. In «Views» rast die Welt auf den Abgrund zu, nachdem im Internet ein Video auftaucht, in dem drei Afrikaner ein deutsches Mädchen vergewaltigen.
Düstere Wolken über dem Bundestag: In Marc-Uwe Klings Krimi «Views» wird er gestürmt.
Bild: Bild: Getty

Hier gibt sich ein Autor Mühe, uns nicht zu langweilen. Keine unnötigen Längen, keine Nebenhandlungen, keine Milieustudie. Bloss ein Plot, der laufend an Fahrt aufnimmt. Ist man einmal eingestiegen in diesen literarischen Schnellzug, kann man kaum mehr abspringen.

Doch Marc-Uwe Kling hat nicht bloss einen unterhaltenden Krimi geschrieben, sondern ein Buch über die politischen und gesellschaftlichen Gefahren, die von der künstlichen Intelligenz ausgehen. «Views» ist ein Gegenwartsroman, der, wenngleich auf brachiale Weise, Herausforderungen unserer Zeit verhandelt. Was passiert, wenn man Wahrheit und Fake im Internet nicht mehr unterscheiden kann? Wenn Videos eben so lügen können wie Worte?

Die Rechten wollen selber für Recht sorgen

Die Berliner Kommissarin Yasira Saad wird mit einem Fall beauftragt, den ganz Deutschland beschäftigt. Im Internet ist ein Video aufgetaucht, auf dem drei afrikanische Männer, vermutlich Geflüchtete, ein deutsches Mädchen vergewaltigen. Bevor es auf Youtube und Co. gelöscht wird, taucht es schon in zahlreichen Foren auf und wird in privaten Chats geteilt. Das Video ist nicht mehr aus dem Netz und den Köpfern der Menschen zu bringen.

Yasira wird als zuständige Kommissarin von ihrem Vorgesetzten ausgewählt, weil sie selbst aus dem globalen Süden eingewanderte Vorfahren hat. Sie soll verhindern, dass der Polizei bei ihrer Arbeit rassistische Tendenzen unterstellt werden.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Je länger der Fall unaufgeklärt bleibt, desto mehr nehmen die rassistischen Ressentiments gegen Yasira und das Bundeskriminalamt zu. Den Polizisten unter Yasiras Leitung wird nicht zugetraut, den Fall lösen zu können. Auch nach tagelanger Ermittlung bleibt das Mädchen spurlos verschwunden, die Täter können nicht identifiziert werden, und nicht einmal der Tatort, eine Waldlichtung mit Holztisch, kann ausfindig gemacht werden. Seltsamerweise scheint dieses Verbrechen nur Spuren im Netz, aber nicht in der realen Welt hinterlassen zu haben.

Der Aktive Heimatschutz, eine Bürgerwehrbewegung, will selbst für Recht sorgen. Und schreitet brutal zur Tat. Hinrichtungsvideos gehen im Internet viral. Sind es wirklich die Täter, die hier abgeschlachtet werden, oder unschuldige afrikanische Opfer? Was ist echt und was ist Fake? Wahrnehmung und Wahrheit verschwimmt.

Vom Känguru-Macher zum Krimiautor

Bekannt wurde Marc-Uwe Kling mit der «Känguru-Chronik», einer satirischen Saga aus Berlin-Kreuzberg mit politischer Schlagseite. Das Känguru gilt als berühmtester deutscher Kommunist seit Karl Marx. Als Kinderbuchautor feierte Kling ausserdem Erfolg mit dem «NEINhorn». Zuerst begeisterte er damit Eltern, weil die Kinder endlich etwas anderes als «Paw Patrol» hörten; dann nervte er sie, weil aus dem Kinderzimmer und den Kindermündern bald nur noch das laute Nein des Neinhorns zu hören war.

Marc-Uwe Kling wurde als Känguru-Autor berühmt.
Bild: Bild: Annette Riedl / DPA

Nun zeigt Kling, dass er auch Krimi kann. Und zwar in seiner reinsten Form. Linear und ohne Schnörkel erzählt. So gut, dass man Kling unbedingt als «Tatort»-Drehbuchautor anfragen muss. Auch das Personal passt bestens ins Setting: Yasira hat nicht nur Wurzeln im Nahen Osten, sie ist auch alleinerziehende Mutter einer Teenagerin mit Klimabewusstsein. Deshalb isst Yasira kein Fleisch mehr und lässt ihr Auto in der Garage stehen. Und ihr Date ist ein Stefan mit Berliner Siebentagebart. Matcht alles bestens.

Erzählerisch wenig fassbar bleiben hingegen die Rechten, die von ihrem Hass angestachelt als gewalttätiger Mob durch die Stadt und zur Selbstjustiz schreiten. Es kommt nach dem traurigen amerikanischen Vorbild zu einem Sturm auf den Bundestag. Kurzzeitig herrschen schier bürgerkriegsähnliche Zustände in Deutschland. Eine Granate explodiert.

Ein «grimmiges Buch» mit viel «Sprengstoff»

«‹View› ist purer Sprengstoff», schreibt das Nachrichtenportal NTV. Und für den «Spiegel» ist es «ein ernstes, düsteres, auch grimmiges Buch.» Es zeigt, wie sich die Wut im Netz in der Realität entladen kann. Und bleibt dabei doch etwas zu eindimensional. Die Linke spielt keine Rolle in der Eskalation, Gut und Böse stimmen mit politischen Parteigrenzen überein. «Das Bundeskriminalamt sieht auf dem rechten Auge ein paar Dioptrien schlechter», heisst es einmal.

Vor allem aber geht es bis zum totalen Ausnahmezustand etwas gar schnell. Die Stärke dieses Romans – das Tempo, die Spannung, der Fokus auf den Plot – ist gleichzeitig seine Schwäche. Die Ausgangslage ist so raffiniert, dass mit mehr Ausstaffierung ein glaubhaft-düsteres Bilder der KI-Zukunft entstehen könnte. Allenfalls aber bestünde dann die Gefahr, dass sich an «Tatort» sozialisierte Krimileser langweilen würden.

Marc-Uwe Kling: Views. Ullstein. 272 Seiten.

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