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Gastbeitrag 

«Putin wurde nicht über Nacht zu dem Mann, der er heute ist»

Der Schweizer Dokumentarfilmer Eric Bergkraut («Letter to Anna») hörte Putins Gegnern zu, als die Welt den russischen Präsidenten noch für einen Staatsmann hielt. Vom 21. bis 23. Oktober können seine drei Russlandfilme wiederentdeckt werden. 

Filmemacher Eric Bergkraut in seinem Atelier in Zürich Binz.



Bild: Sandra Ardizzone / KUL

Die russische Journalistin Anna Politkowskaja war eine herausragende Figur jener Zivilgesellschaft, von der man Anfang der 2000er-Jahre dachte, sie könnte sich in Russland durchsetzen. Messerscharf analysierte sie die Politik von Wladimir Putin und sein System der Macht. Insbesondere dokumentierte sie die Folterungen, Entführungen und Morde, welche russische Soldaten in Tschetschenien begingen. Die Bilder aus Grosny aus dem 2. Tschetschenienkrieg gleichen jenen, die heute aus der Ostukraine kommen: Es war ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung.

Am 7. Oktober 2006 wurde Politkowskaja auf dem Weg aus ihrer Zeitungsredaktion zum Supermarkt beschattet und weiter verfolgt bis in ihr Quartier. Der Killer wurde losgeschickt, kurz bevor sie ihr Wohnhaus betrat. Er erwartete sie im Treppenhaus, die Exekution erfolgte vor der Lifttür. Zufall oder nicht: Der 7. Oktober ist Wladimir Putins Geburtstag. Dies und viel mehr erzählt mein Dokumentarfilm «Letter to Anna» (2008). Er ist nach «Coca, die Taube aus Tschetschenien» (2005) über die Menschenrechtlerin Sainab Gasheva, die zusammen mit anderen Frauen russische Gräueltaten in Tschetschenien für die Nachwelt dokumentierte, der zweite von drei Filmen über Russland und seinen Umgang mit Menschenrechten.

«Letter to Anna» konnte unmöglich ein Wohlfühlfilm werden, obwohl ich bei jedem Schauen bemerke, dass Politkowskaja eine erfrischende Luzidität ausstrahlt, die bis ins Heute reicht. Stets ging es mir mit meinem Film auch um die Frage, was das ferne Geschehen in einer globalisierten Welt mit uns zu tun hat – die Schweiz nahm gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in mancher Hinsicht eine ambivalente Rolle ein.

Meine drei Filme liefen auf grossen Festivals in New York oder Berlin, und im Untergrund sogar in Weissrussland. Aus Zürcher Screenings dieser «alten» Filme bildete sich in diesem Frühling eine kleine Community. Menschen aus der Ukraine, aus Russland, Tschetschenien, der Schweiz. Als Putin in den letzten Tagen wieder zivile Ziele bombardieren liess, fragten sich die Ukrainerinnen und Ukrainer aus der Gruppe morgens als Erstes: Leben alle Freunde noch? Und ich dachte an den ehemaligen russischen Oligarchen und Kreml-Kritiker Mikhail Chodorkovski, über den ich meinen dritten Film realisiert habe, der aus den Briefen erwuchs, die wir während seiner Haftzeit getauscht hatten. Chodorkovski erklärte mir, wenn der Westen Putin weiter gewähren lasse, herrsche bald Krieg in Europa. Ich hatte damals gedacht, er übertreibe ein wenig.

Auch Ramsan Kadyrow habe ich mehrmals getroffen. Er wird von der Boulevard-Presse «Putins Bluthund» genannt und soll es in der Ukraine jetzt richten. Ich besuchte ihn damals in Tschetschenien in einer Parallelwelt aus Springbrunnen, wackeren Ringkämpfern und Kindern in Trachtengewändern. Diese Welt war so wenig real wie Putins Vorstellung, die Ukraine schnell einnehmen zu können, weil man ihn dort erwarte. Man könnte lachen, wäre es nicht todtraurig.

Ein Ukrainer aus der erwähnten kleinen Gruppe, Anwalt von Beruf, gratulierte mir am 1. August zum Schweizer Nationalfeiertag. Das war mir noch nie passiert. Aber ich verstand ihn: Er erfährt am eigenen Leib, was Unterdrückung und Fremdbestimmung bedeuten, er weiss, wohin irrer Nationalismus führt. Umgekehrt ist die Ernüchterung über die Grenzen der Schweizer Gastfreundschaft unvermeidlich (und sei es vor dem SBB-Billettautomaten stehend, ob der Preise – mit oder ohne Halbtax). Diese Erfahrung machten in der Schweiz schon politische Geflohene nach dem Ungarnaufstand 1956 oder während der Besetzung der Tschechoslowakei 1968. Daraus entstand, nebenbei bemerkt, frühe Migrantenliteratur.

Vaclav Havel war Schriftsteller, Häftling (einer «kommunistischen» Diktatur), sodann tschechischer Staatspräsident. 2008 überreichte er mir in Prag einen Preis. Ich fragte ihn, ob es stimme, dass er gesagt habe, schlimmer als die Kommunisten seien nur noch die Anti-Kommunisten. Er lachte. Ja, das habe er, neben Friedrich Dürrenmatt stehend, tatsächlich gesagt. Ich bin versucht zu sagen, in Verlängerung quasi: Es ist Zeit für ein Comeback der humanitären Werte, auch in der Politik.

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