Mit diesem Kürzestgedicht traf mich Eugen Gomringer ins Herz und brachte meine naive Schweizer Identität in heftige Schieflage:
schwiizer
luege
aaluege
zueluege
nöd rede
sicher sii
nu luege
nüd znäch
nu vu wiitem
ruig bliibe
schwiizer sii
schwizer bliibe
nu luege
Kaum ein anderer Text zielt so präzis in die herausfordernde Selbsterkenntnis des Schweizerseins. In der Welt werden wir ja seit jeher als freundlich und zurückhaltend gewürdigt. In diesem Lob steckt aber auch der Hinweis auf die mögliche Leblosigkeit, auf eine Existenz ohne Temperament. Vielleicht konnte das nur einer schreiben, der nicht nur Schweizer Blut in sich fliessen spürte, sondern auch südamerikanisches. Gomringers Mutter war Bolivianierin, er selbst wurde 1925 in Bolivien geboren, besuchte aber dann die Schulen in Zürich – und wurde neben Ernst Jandl zum wichtigsten Pionier der konkreten Poesie.
Kritik an Feigheit oder Lob philosophischer Gelassenheit?
Nun könnte man sagen: Schweizer haben in den letzten paar Jahrzehnten doch an Lebensfreude, an Temperament zugelegt. Ist Gomringers Gedicht also ein verblasstes Gespenst aus den frühen 1960er-Jahren? Weit gefehlt. «schwiizer» ist ein Klassiker. Das heisst: Es ist eben vielschichtig interpretierbar und überdauert die Zeit, spricht in jeder Generation wieder neu zu den Lesenden.
Nur schon die drei Zeilen «nüd znäch / nu vu wiitem / ruig bliibe» sind mindestens doppeldeutig: Man kann darin eine schweizerische Passion denunziert sehen, nämlich die Neutralität mit dem Mantra: «Mischt euch nicht in fremde Händel», das dem Eremiten Niklaus von der Flüe zugeschrieben wird. Also Schweigen, wo Gefahr droht, keine Stellung beziehen, sich vor der Geschichte wegducken? Wie aktuell diese Zeilen lesbar sind, sieht man am mühsamen Ringen des Bundesrats beim Thema Ukraine.
Aber eine solche Interpretation würde dem gewieften Lyriker Gomringer nicht gerecht. Schaut man nämlich in schweizerischen Mundartwörterbüchern das Wort «luege» nach, erkennt man sofort etwas durch und durch Positives: die philosophische Souveränität des Schweizerseins. Denn «luege» meint sprachhistorisch auch «erwägen», «das Tun überwachen» – und nicht zuletzt «staunen». Darin steckt Gelassenheit und Interesse, gerade das Gegenteil von Gleichgültigkeit und Duckmäusertum.
Auch Grabscher und Belästiger kriegen ihre Lektion
Eugen Gomringer lässt in seinem Gedicht also mindestens Menschenkenntnis, Politik und Philosophie anklingen. Es zeugt von der Qualität seines lyrischen Minimalismus, der die Zeit überdauert. Und wenn man noch einen letzten Beweis für dessen Aktualität braucht: «nu luege / nüd znäch» könnte man auch als Lektion an alle Grabscher und Belästiger und deren sexualisierte Aufdringlichkeit verstehen.
Denke ich so über dieses wunderbare «schwiizer»-Gedicht nach, so fühle ich mich dann doch sehr versöhnt mit meinem eigenen Schweizersein. Denn dieses hat doch deutlich mehr Facetten als die blosse Temperamentlosigkeit. Eugen Gomringer ist am 21. August gestorben.
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