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Lucerne Festival

Der Konzertsaal wird zum Bunker: Am «Forward» finden Gedankenexperimente und Tranceerlebnisse statt

Das Lucerne Festival widmet sein «Forward»-Festival der zeitgenössischen Musik. Und wird gewollt ganz politisch. Mit Patricia Kopatchinskaja und Anthony Braxton sind auch grosse Namen mit dabei.

Die vierte Ausgabe des Satelliten-Festivals für neue Klänge und zeitgenössischer Musikkunst von Lucerne Festival bietet während drei Tagen Gelegenheit für neue Hörerlebnisse. Die Musiker des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) gestalten jeweils gemeinsam das Programm des Herbst-Festivals «Forward».

Patricia Kopatchinskaja (hier bei «Forward» 2022) verarbeitet im ersten Konzert den Schmerz und bittet im nächsten um Frieden.
Bild: Peter Fischli/Lucerne Festival

Im Gegensatz zum Sommerfestival steht es unter keinem übergeordneten Motto. Die einzelnen Konzerte haben aber einen Titel, der die dargebotenen Werke zusammenfasst und einen dramaturgischen Anspruch verrät. Als Gastkünstlerin sticht die Geigerin Patricia Kopatchinskaja heraus, die gleich zwei Mal auftritt.

Die Konflikte gehen alle an, auch wenn sie weit weg sind

In einer Videobotschaft erklärt die aus Moldau stammende Geigerin mit Schweizer Staatsbürgerschaft die Hintergründe hinter ihrem Projektvorschlag, den sie den Contemporary Leaders (ehemalige Academy-Teilnehmer), dem Kollektiv der «Forward»-Kuratoren, vorgelegt hat. Darin bringt sie ihre Wertschätzung für diese Organisationsform und die dahinter stehenden jungen Musikerinnen und Musiker zum Ausdruck. Es ist nicht das erste Mal, dass sie bei Forward mitwirkt. 2021 erregte sie mit ihrer szenischen Dekonstruktion von Beethovens Violinkonzert Aufmerksamkeit. 2022 war Ligetis Violinkonzert zu hören, in dem der Komponist eine Melodie verarbeitete, die ihn an seinen im KZ ermordeten Bruder erinnert. Kopatchinskaja betont, dass es nicht so sehr darauf ankomme, was man tue, sondern mit wem. Das Festival biete die Möglichkeit, wichtige Dinge «auszudenken».

Der Anfang des Brainstormings für das aktuelle Projekt begann just, als im Februar 2022 Russland in die Ukraine einfiel. Danach kamen weitere Konflikte. Auch wenn diese geografisch weiter entfernt geschähen, könnten wir nicht verleugnen, dass sie uns alle etwas angehen, sagt Kopatchinskaja. Mit der Präsenz von Flüchtlingen im Alltag, Kindern, die Kriegs- und Fluchttrauma aus frühster Kindheit oder gar aus dem Mutterleib mit sich tragen, könne niemand dauerhaft die Augen davor verschliessen.

Nebst dem Auftrag, Schönes auf die Bühne zu bringen, seien Musikerinnen und Musiker auch politische Wesen, seien alle auch Mitbürger. Mit dieser Botschaft geht ein eigenwilliges Gedankenexperiment einher. In «Dona nobis pacem» (So, 17. November, 18.30, KKL) stellt sich Kopatchinskaja vor, «der Konzertsaal wäre ein Bunker, in dem man gemeinsam Schutz sucht, und draussen geht die Welt unter. Ich wollte wissen, welche Musik unter solchen Umständen gespielt und gehört werden kann. Und ob die Musik überhaupt einen Sinn hat, wenn man um sein Leben ringt.» Zu hören sind verschiedenste Werke in Kammermusikbesetzungen mit einem Instrumentarium, das von Piccolo bis Tubo, von Mundharmonika bis Tonband reicht.

Der in Luzern beheimatete, ukrainische Chor Prostir singt dabei auch ukrainische Wiegenlieder. Das ist nicht sein einziger Auftritt bei «Forward». Das erste Konzert unter dem Titel «Signale» (Fr, 15. November, 19.30, Peterskapelle) vereint zarte Violinklänge im Werk der 1991 geborenen Kathrine Balch mit starken Blechbläsersounds, Ted Moore experimentiert mit Rückkopplungseffekten zwischen Becken und Mikrofon. Und im namensgebenden «Signals» der Ukrainerin Anna Korsun taucht der Chor mit Megafon in apokalyptische Klangwelten ein. Das ganze vor dem Hintergrund der Klanginstallation «Aluminum Forest» von Balch und Moore (Sa, 16. November, 10.00–16.00 und So, 17. November, 8.00–18.30, Peterskapelle) .

Mit Anthony Braxton in die Geister-Trance

Das grösste Konzert – was die Besetzung anbelangt – trägt den Titel «Schmerz» (Sa, 16. November, 19.30, KKL). In diesem Programm bringt die Geigerin das Violinkonzert des US-amerikanischen Komponisten Michael Hersch zur Aufführung. «Es ist kein Stück, dass uns unterhalten wird. Es ist ein Stück, das uns weh tut.» Inmitten von derben Clustern, beissenden Einwürfen und perkussivem Chaos stimmt die Solovioline einen Wehgesang an. Eine offene Wunde in Tonform. Einen Gegenpol dazu bildet das eher introvertierte Stück für Kammerorchester von Balch.

Auch in dieser Ausgabe bietet «Forward» ein rituelles Musikerlebnis. Im Late-Night-Konzert «Trance» (Sa, 16. November, 22.00, KKL) kombiniert Kobe Van Cauwenberghe mit einem Stück von Anthony Braxton Komposition und Improvisation. Grundlage für den Beitrag aus seiner Reihe «Ghost Trance Music» sind Kreistänze nordamerikanischer Indigener. Cathrine Lamb indes gibt den Musikerinnen und Musikern nur wenige verbale Spielanweisungen. Das Publikum sitzt während des Konzerts mit den Akteuren auf der Bühne.

Mit «Tubalirum» (So, 17. November, 11.00) werden trotz aller hohen Ansprüche auch die Kleinsten abgeholt. Das Familienkonzert verbindet die hohe Violine mit der tiefen Tuba. Eine versöhnliche Note im aufrüttelnden Programm.

Freitag, 15. November bis Sonntag, 17. November, weitere Infos finden Sie unter www.lucernefestival.ch/forward.

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