1917 - ein wahrscheinlich massiv unterschätztes Jubiläum. Ja, klar, die Russische Revolution. Aber die war weit weg - und welche war es jetzt gleich noch? Der Mann der russischen Revolution war Lenin. Und war der nicht mal in Zürich? Und dann die Geschichte mit dem verplombten Zug. Irgendwie hängt die Schweiz da auch mit drin. Und vielleicht kommt beim Einen oder Anderen auch eine Assoziation hoch: Der Koloss mit den tönernen Füssen, Russland, das mit seinem Zarenregime doch schon lange auf der Kippe stand - es hat das Bild fast usurpiert. Ursprünglich stammt es aus der Heiligen Schrift, aus dem Buch Daniel. Aber es trifft den historischen Sachverhalt punktgenau.
Eine Ausstellung zu 1917 - auch eine in der Schweiz - muss mit Russland zusammenarbeiten, damit überhaupt etwas gezeigt werden kann. Und das ist nicht einfach, weil es in Russland natürlich auch jede Menge Ausstellungen über 1917 gibt. Das sagte jedenfalls Kristiane Janeke, vom Historischen Museum Berlin, mit dem das Landesmuseum Zürich kooperiert hat.
Eine Ausstellung zu 1917 muss alles das klären, was oben angetönt wurde. All diese verschwommenen Gedächtnis- und Erinnerungsfetzen, die wir alle irgendwie haben. Denn 1917 ist in Russland wirklich etwas passiert, was neu war. Nicht die Revolution als solche, das gab es in der Geschichte immer wieder. Aufbegehrt wurde schon immer und die Verhältnisse waren in der Mehrzahl der Fälle eher so, dass Veränderung angesagt war als nicht.
Im Rückblick erscheinen uns die beiden «grossen» europäischen Revolutionen ziemlich «angesagt». Die Louis-Dynastie in Frankreich war ebenso morsch und überlebt wie das Zarentum in russischen Riesenreich. Beide Revolutionen waren von einer Erwartung unterfüttert, die sich als Humanitäts-Symphonie ankündigte, aber bald in schrille Misstöne überging.
Schön «illustriert» - im wahrsten Sinn des Wortes - wird das in der Ausstellung durch die Kunst. Zu Beginn der Ausstellung, im Zimmer «Verheissung», sieht man Werke der Russischen Avantgarde. Sie sind «abstrakt», zwangsläufig, weil der Realismus vergangenheitsverhaftet war. Der Aufbruch, den das andeutet, wird dann später vom ZK der Kommunistischen Partei in einer Art diskreditiert, dass einem schon nur dadurch angst und bange wird. «Unverständlich» fürs Volk sei, mehr Naturalismus wird kommandiert und das mündet dann in diese schrecklichen Werke des Soz-Realismus. Nur Hammer und Sichel in der Hand eines muskulösen Arbeiters markieren den Unterschied zu faschistischen und nationalsozialistischen Heldendarstellungen.
Marx? Versteht doch niemand
Warum «Das Kapital» von Karl Marx ausgerechnet zuerst ins Russische übersetzt wird, ist ebenso dunkel wie aufschlussreich. 1867 erschien der erste Band auf Deutsch, bereits 1872 lag er in Russisch vor. Die zaristische Zensurbehörde hatte keine Bedenken: Das würde ohnehin niemand verstehen. Heute lachen wir darüber, aber die Behörde hatte ja nicht unrecht. Warum sollte ausgerechnet in Russland, dem agrarisch-rückständigen Land, jemand etwas von einer proletarischen Revolution erwarten?
Die Russische Revolution war ein Missverständnis - in jeder Hinsicht. Das sieht man nicht nur, wenn man versucht, sich im Dickicht des Geschehens zurechtzufinden. Es gäbe nur «revolutionäre Prozesse», sagte Kristiane Janeke, «die russische Revolution gibt es nicht» - mit Betonung auf «die».
Dem muss man zustimmen. Aber es gibt sie eben doch und damit sind wir in Zürich angelangt. Ab 1916 ist der «Herr Uljanow» Mieter an der Spiegelgasse 14 und eifriger Benutzer der Zentralbibliothek Zürich. Auf mehreren Ausleihzetteln sieht man seine Unterschrift in lateinischen Lettern: «B. Uljanow». Und ohne den Herrn Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin wäre die Russische Revolution nicht die Russische Revolution geworden.
Lenin und seine Perücke
Lenin wird in der Ausstellung gebührend thematisiert: Die Zimmerwaldkonferenz, die Bibliothekszettel, seine karge Wohnung, sein Schreibtisch und natürlich der berühmte Zug, mit dem er von Zürich über Schaffhausen und Finnland nach Petrograd fährt. Seinen eindrücklichsten Auftritt hat er im «Bürokratie»-Zimmer, da steht er, drei Meter Schwermetall - die Nazis wollten ihn 1943 einschmelzen, aber der Ofen war zu klein. Lenin, immer im dreiteiligen Bürgeranzug mit Krawatte, ist zur Ikone der Proletarier-Revolution geworden.
Der Metallkoloss ist eindrücklich. Noch eindrücklicher ist Lenins Perücke. Lenin tritt uns doch nie anders als glatzköpfig entgegen? Im Sommer 1917 musste er sich eine Zeit lang in Finnland verstecken. Er reiste mit einem Pass, der auf den Namen B. Iwanow ausgestellt war. Auf dem Foto ist ein Mann mit wildem Haarschopf zu sehen. Die Perücke ist ein wildes, rotes Haarteil, kein Polizist würde heute darauf hereinfallen, denkt man. Aber die Reliquie war ein für das Gelingen der Oktoberrevolution entscheidendes Requisit.
Am Abend des 24. Oktober 1917 war die Lage noch völlig offen. Lenin wusste, dass man zur Tat schreiten musste, dass die Provisorische Regierung aktiv gestürzt werden müsste. Aber das bolschewistische Hauptquartier zögerte. Da setzt sich Lenin in seinem Versteck in der Stadt Perücke und Mütze auf (andere Quellen wollen noch wissen, dass er sich einen Verband um den Kopf gewickelt habe) und bringt schliesslich das ZK dazu, den Befehl für den Aufstand zu geben. Der Rest ist dann wirklich Geschichte, immerhin sieht man im Film, wie mit Bleistift auf einem Stadtplan herumgekreuzelt wird, damit die Stosstrupps der bolschewistischen Partei ihre Ziele auch finden.
Dann spielt sich einer jener Zufälle ab, welche den Lauf der Weltgeschichte manchmal beeinflussen und manchmal laufen lassen. Der vermummte Lenin wird von einer Patrouille der Regierung angehalten. Aber der mimt entschlossen den Betrunkenen und die Kerenski-Leute lassen ihn gehen. Dazu passt auch, dass die «Grosse sozialistische Oktoberrevolution» eine sehr begrenzte Aktion war, dass da gar nicht viel «erstürmt» werden musste. Im Rätekongress gab es dann die entscheidende Szene: Als man bekannt gab, dass das Winterpalais unter der Kontrolle der Bolschewiki sei, verliessen die Delegierten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre wütend den Saal. Sie überliessen Lenin und Trotzki das Spielfeld, Stalin war «als Schatten» wahrscheinlich auch schon ein bisschen präsent.
Von der «revolutionären Aktion», einer gewaltsamen Machtübernahme, hielt man auch im übrigen Europa und besonders in der Schweiz nicht viel. Auch dort spaltete sich die Kommunistische Partei von der Sozialdemokratie ab. Vom Vorwurf des «Fraktionalismus» und «Sozialfalschismus» rückte man in Moskau erst 1935 ab - und da war es zu spät. Nichtsdestotrotz kam es 1918 in der Schweiz zum Generalstreik, Deutschland stand vor einem revolutionären Umsturz. Das wird in der Ausstellung ebenso thematisiert wie die irritierenden Versuche europäischer Intellektueller mit Stalins Sowjetunion zurechtzukommen.
Am Boden eine Ratte
Eine «Milchkanne menschlicher Güte mit einer toten Ratte am Boden» – gemeint ist Lenin: Das sind Vergleiche, die uns kalt durchs Rückenmark rieseln. Wegen der Gnadenlosigkeit des Bildes. Vielleicht aber auch darum, weil das Rückenmark tatsächlich das zentrale Organ sein kann zur Beurteilung von guter Literatur.
Beides, der Vergleich Lenins mit einer Ratte am Boden einer Kanne wie der Satz über unseren Spürsinn für Literatur im Rücken, stammt von Vladimir Nabokov (1899–1977). Nabokov war der grösste russische Schriftsteller und der grösste amerikanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Er schrieb in beiden Sprachen, weniges auch auf Französisch.
Die Mehrsprachigkeit verdankte er dem Exil. Ins Exil wiederum zwangen ihn Lenin und die Bolschewiken – zuerst nach Deutschland, dann wegen der Nazis nach Frankreich, schliesslich in die USA und endlich, diesmal freiwillig, nach Montreux, bis zu seinem Tod im «Palace». Nabokov entstammte einer der ältesten Adelsfamilien Russlands. Sein Vater war liberaler Minister gewesen und starb durch politischen Mord in Berlin. Nabokov, über Nacht mittellos geworden, hielt sich als Tennis- und Englischlehrer über Wasser. Erst der Welterfolg mit «Lolita» (1955) machte ihn reich und berühmt. Er sah Russland nie wieder.
Zu Lenin, zur russischen Revolution und zu den Bolschewiken äusserte sich Nabokov selten. Wer Nabokovs starke Meinungen kennt, weiss, dass eben darin sein glühendster Hass liegt, im Ignorieren. Seine Verachtung für «die roten Spiesser» war unermesslich. Lenin bezeichnete er einmal als Ratte – in einem Brief an seinen Förderer in den USA und späteren Kritiker Edmund Wilson. Jede Lenin-Versüssung, anfangs auch durch Wilson, war ihm besonders bitter.
Der empfindsame Mensch sei niemals grausam, glaubte Nabokov. Der sentimentale Mensch könne ein wahrer Unhold sein: «Stalin liebte Babys. Lenin schluchzte in der Oper, vor allem bei La Traviata.» Max Dohner
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