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Sprachliche Moden und Marotten

Kunstleder heisst jetzt neu veganes Leder – wie sich Sprache wegen Gesinnung wandelt

Als Kind schämte sich unser Autor für seine Kunstlederjacke. Wenn er heute ein Jugendlicher wäre, würde er sie mit Stolz tragen.
Moderne Models tragen keine Kunstleder-Trenchcoat mehr, sondern eine aus veganem Leder.
Bild: zvg

Als Kinder mussten mein Bruder und ich am Sonntag oft das gleiche Jackenmodell tragen. Es war eine braune Lederjacke, die gar nicht schlecht aussah, nur leider nicht aus Leder war, sondern aus Kunstleder. Uns war das ein bisschen peinlich. Damals war es einem noch unangenehm, eine Lederjacke zu tragen, die nicht aus Leder ist. Wahrscheinlich brauchte es deswegen ein Wort wie Kunstleder. Der Begriff Kunstleder wollte suggerieren, es sei eine Kunst, etwas herzustellen, das wie Leder aussieht, aber gar kein Leder ist. Doch selbst von diesem sprachlichen Kunstgriff liess sich niemand täuschen. Wer es sich leisten konnte, trug echtes Leder. Kunstleder zu tragen war eher verpönt.

Heute sieht die Sache ziemlich anders aus. Wer etwas auf sich hält, trägt keine Lederjacke mehr, wenigstens keine, die aus echtem Leder ist. Kunstleder ist höher im Kurs als echtes Leder, weil für die Herstellung von Kunstleder kein Tier gehäutet werden muss. Wer also Kunstleder trägt, beutet keine Tiere aus. Deswegen wird der Begriff Kunstleder allmählich abgelöst. In der Schuh- und Bekleidungsbranche heisst Kunstleder inzwischen veganes Leder. Wer veganes Leder trägt, hat eine edle Gesinnung. Wer echtes Leder trägt, hat ein edles Material. Es ist also immer nur entweder die Gesinnung edel oder nur das Material. Beides zusammen geht nicht mehr.

Bei der Seide dürfte der Wandel auch bald kommen. Vegane Seide wird da und dort schon beworben, hat aber als Begriff die Kunstseide noch nicht ganz verdrängt. Ähnlich wie beim Leder geht es bei der veganen Seide um ein künstlich hergestelltes Produkt, das die äusseren Eigenschaften eines Ursprungsproduktes nachahmt und dennoch ohne die Ausbeutung von Tieren auskommt.

Ein bisschen komplizierter ist es bei der Wolle. Zwar gibt es vom Hanf bis zum Nylon eine grosse Anzahl veganer Garne, aber von veganer Wolle ist noch recht selten die Rede. Anders als beim Kunstleder und bei der Kunstseide sprach man halt bei künstlichen Garnen auch früher nicht von Kunstwolle. Dass gegenwärtig bei Bekleidungsmaterialien der Wortteil «Kunst» durch das Adjektiv «vegan» ersetzt wird, heisst nun allerdings nicht, dass es auch umgekehrt ginge. Nicht alles, was vegan ist, kann automatisch der Kunst zugerechnet werden. Es ist keine Kunst, vegane Produkte herzustellen.

Und damit wären wir bei einer anderen, beinahe vergessenen Redensart angelangt: «Das isch ke Kunscht!», sagten wir als Kinder mehrmals täglich und in allen möglichen Zusammenhängen. Der Kopfsprung vom Dreimeterbrett, das freihändige Radfahren, das Stelzenlaufen, das alles war keine Kunst. Zum Ausrufesatz «Das isch ke Kunscht!» gehörte bezeichnenderweise fast zwangsläufig der Anschlusssatz «Das chan i ou». Kunst war ungefähr alles, was ein normalbegabter Mensch selbst nicht konnte und keine Kunst war folglich alles, was ein normalbegabter Mensch mit etwas gutem Willen konnte. Am Sonntag eine Kunstlederjacke tragen, war nach unseren damaligen Kriterien also keine Kunst.

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