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Weltkulturerbe

Alpengesang plötzlich Weltkulturerbe – Jodelprofessorin Nadja Räss: «Das würde auch Marsmenschen zu Tränen rühren»

Die Unesco hat entschieden: Jodeln wird immaterielles Weltkulturerbe. Im Interview erklärt Jodlerin und Jodelprofessorin Nadja Räss, was die Jodelszene damit erreichen will.
Nadja Räss ist Professorin für Jodeln an der Hochschule Luzern.
Bild: Michael Probst

Ich dachte, Jodler seien bescheiden und selbstgenügsam. Wozu wollen sie plötzlich Weltkulturerbe werden?

Nadja Räss: Mit der Bescheidenheit haben Sie schon recht. Aber das Jodeln ist schön und verbindend. Unsere Welt ist so rasant und oft nicht so schön unterwegs. Da finden wir wichtig, etwas hervorzuheben, das in unserer Gesellschaft gut läuft und uns allen gut tut. Wir schaffen also good news. Deshalb passt das Jodeln auf diese Liste.

Verstärkt das gerade im Appenzellerland nicht noch einen ärgerlichen Overtourism?

Das werden wir sehen. Aber in erster Linie geht es uns darum, das Kulturgut zu vermitteln. Mit Massnahmen, die dafür sorgen, dass das Jodeln auch in Zukunft stattfindet. Geplant sind also weniger touristische Aktionen, sondern zum Beispiel solche, die für das Jodeln im Schulalltag einen Platz finden.

Der Eidgenössische Jodlerverband wünscht sich sogar Jodelkurse in der Primarschule. Ist das nicht utopisch?

(lacht) Wir haben schon noch Arbeit vor uns. Aber sehen Sie: Gejodelt wird längst nicht nur auf dem Land. Es gibt auch in den Städten viele Jodelkurse. Und die ersten Jodelclubs sind Ende des 19. Jahrhunderts in den Städten gegründet worden.

Schweizer Arbeitsmigranten hatten Heimweh nach ihren Bergen…

Ja, und sie brachten das ländliche Singen mit in ihre neue städtische Heimat.

Was hat das Jodeln im Schulzimmer verloren?

Unter dem Label ‹Jodelndes Klassenzimmer› haben wir im Rahmen der Unesco-Kandidatur ein Programm gestartet, in welchem bereits zwanzig Lehrpersonen mitmachen. Dabei ist zum Beispiel ein Kindergarten aus Würenlos, einer Gemeinde, die man nicht gerade mit dem Jodeln verbindet. Über das Jodeln kann man viele Kompetenzen abholen, die auch sonst im Unterricht brauchen kann, neben der Freude am Singen vor allem Sozialkompetenz.

Immerhin kommt das Jodeln wieder mal in die nationalen Medien.

Genau. Als Jodlerin bin ich mir zwar noch nie als Exotin vorgekommen. Aber das grosse Medieninteresse freut uns, und es gibt uns Rückenwind. Vielleicht animiert es Leute, mal ein Jodelkonzert zu besuchen oder sogar an eine Probe zu kommen.

Hat die Jodelszene denn Nachwuchsprobleme?

In Regionen wie dem Appenzellerland oder dem Toggenburg haben die Jodelchöre überhaupt keine Nachwuchsprobleme. In anderen Regionen gibt es eine gewisse Überalterung. Es hat sich aber in den letzten Jahren positiv entwickelt. In meiner Kindheit hätte ich sehr gerne in einem Kinderjodelchörli gesungen. Heute gibt es viele davon, damals leider nicht. Aus dem Unesco-Projekt heraus gründen wir gerade in Basel ein Kinderjodelchörli, das am Eidgenössischen Jodlerfest 2026 in Basel auftritt.

Viele sehen im Jodel vor allem die politische Vereinnahmung. Fast an jeder SVP-Versammlung treten Jodelchöre auf. Stört Sie das?

Überhaupt nicht. Das war ja vor ein paar Jahren noch verbreiteter. Für mich ist Jodeln ein Kulturgut, das nicht einer Partei gehört, sondern allen zugänglich sein soll. Aber wenn es in der SVP Leute gibt, die Freude am Jodeln haben, finde ich das schön. Es gibt dazu auch Gegenbewegungen, etwa feministische Jodelchöre wie das «Echo vom Eierstock».

Jodeln steht musikalisch für Tradition und Bewahrung, für Nostalgie. Wo ist die Szene offen für Innovation?

Es gibt auch an Jodlerfesten immer wieder offene Bühnen, und da hört man auch Innovatives. Zur Eröffnung des Eidgenössischen Jodlerfestes in Brig gab es ein  Jodelkonzert, das sowohl Tradition wie auch Innovation zeigte. Es ist schon so, dass das Jodeln für die Geistige Landesverteidigung während des Zweiten Weltkrieges gebraucht worden ist. Aber so erzkonservativ ist die Jodelszene schon lange nicht mehr.

Was soll denn jetzt als Weltkulturerbe ausgezeichnet werden: Das Appenzeller Zäuerli oder auch Melanie Oeschs schlagerähnliches lololololo?

Grundsätzlich gehört das Jodeln in der Schweiz mit allen Facetten auf die Liste. Melanie Oesch beherrscht die Jodeltechnik ja wie keine zweite.

Immerhin singt Melanie Oesch in einem ihrer Lieder «Jodel makes me happy». Macht Jodeln glücklich?

Ja, sehr. Medizinisch ist erwiesen, dass Singen Endorphine, also Glückshormone, freisetzt. Ich behaupte mal, beim Jodeln geschieht dies in noch grösseren Mengen. Und bei meinen Schülerinnen erlebe ich, dass sie nach dem Unterricht und nach Proben gut gelaunt sind.

Die Österreicher Jodler werden wohl neidisch, wenn die Schweiz ihr eigenes Jodeln zur Weltkultur erklärt.

Eine Erweiterungskandidatur schliesse ich nicht aus. (lacht) Aber im Moment habe ich genug vom Ausfüllen der vielen Formulare.

Was für einen Jodel würden Sie mit einer Rakete ins All schicken - als repräsentatives Beispiel für das Jodeln?

Persönlich gerne ein Rugguserli aus dem Appenzellerland – und das verzeihen mir hoffentlich alle Innerschweizer. Am besten in einer Aufnahme der «Hobbysänger». Es ist Naturjodel ohne Text - und ich bin überzeugt, dass dieser Jodel auch Marsmenschen zu Tränen rühren wird.

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