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Interview

Ist Cancel Culture links? Nein, meint Susan Neiman. Die Aufklärung will sie gegen das Stammesdenken der Woken verteidigen

Immer mehr Leute drifteten nach rechts, weil sie von vermeintlich linker Symbolpolitik entsetzt seien, sagt die amerikanische Philosophin. Ausserdem erklärt sie, warum sie sich vom deutschen Feuilleton verkannt fühlt – und was sie von Sahra Wagenknecht hält.
«Natürlich hat man besondere Beziehungen zu Menschen aus dem eigenen Kulturkreis. Aber wenn man politisch denkt, muss man universalistisch denken»: Philosophin Neiman.
Bild: James Starrt

Frau Neiman, Ihr jüngstes Buch wurde von einigen deutschen Rezensenten scharf kritisiert: Sie griffen die woke Bewegung an, ohne zu definieren, was «woke» überhaupt bedeute. Waren Sie von der Heftigkeit mancher Verrisse überrascht?

Susan Neiman: Ja. Einige Besprechungen gingen am Kern der Sache vorbei. Sie meinten, ich betreibe Schattenboxen, weil ich gar nicht nachweisen würde, dass es Wokeness überhaupt gebe. In den USA, Grossbritannien, den Niederlanden oder Frankreich kam kein Rezensent auf eine solche Idee. Wir alle kennen schliesslich Beispiele für wokes Verhalten; ich hatte einfach keine Lust, noch einmal alle Vorfälle von Cancel Culture aufzulisten. Erinnern Sie sich an den Streit um Amanda Gorman?

Sie meinen die Auseinandersetzung darüber, ob ein Gedicht der afroamerikanischen Lyrikerin von einer Weissen ins Niederländische übersetzt werden dürfe?

Gorman suchte sich eine Übersetzerin aus, deren Texte sie mochte. Das ist das einzig sinnvolle Kriterium. Eine schwarze niederländische Fashion-Bloggerin schrieb daraufhin, nur eine schwarze Frau könne das Gedicht übersetzen. Daraufhin zog sich die weisse Übersetzerin zurück. In Spanien war die Übersetzung schon fertig, aber da sie von einem weissen Mann gemacht worden war, musste das Gedicht neu übersetzt werden. Ich verstehe angesichts solcher Vorfälle nicht, wie man die Existenz von Wokeness leugnen kann. Was mich an einigen deutschen Kritiken auch wunderte: Ich habe in Harvard bei John Rawls promoviert und war Professorin an renommierten Universitäten. So zu tun, als würde ich Fehler machen, die man im zweiten Semester begeht, ist schon etwas komisch, oder? Aber ich freue mich darüber, dass das Buch gelesen wird. Ich wollte eine Debatte anstossen, und das ist mir gelungen.

Woher kommt die Unerbittlichkeit mancher Rezensenten?

Sie hängt wohl auch damit zusammen, dass ich bewusst nicht so schreibe wie die meisten Philosophinnen. Eines meiner Vorbilder ist Jean Améry. Er konnte nicht studieren und war doch einer der gebildetsten deutschsprachigen Autoren seiner Generation. Wie die alten Aufklärer – und Améry war ein begnadeter Verteidiger der Aufklärung, was viele nicht wissen – wollte ich möglichst viele Leser erreichen. Manche verstehen aber nicht, dass sehr viel Arbeit darin steckt, eine klare Sprache zu schreiben. Es ist viel einfacher, akademische Bücher zu verfassen.

Könnte das Unbehagen an Ihrem Buch auch damit zusammenhängen, dass manche glauben, wer die Woken kritisiere, spiele den Rechten in die Hände?

Das ist sicher so. Tatsächlich gibt es aber Leute, die von woker Symbolpolitik derart entsetzt sind, dass sie nach rechts driften. Meine Freunde gehören nicht dazu, aber sie fühlen sich politisch heimatlos und resignieren. Sie haben sich immer als links bezeichnet, doch dann wurden sie auf einmal für irgendwelche vermeintlichen Verfehlungen angegriffen. Für manche ist das verwirrend. Auch ich war verwirrt, nachdem einige Freunde mir sagten, sie sähen sich nicht mehr als Linke. Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen. Ich sagte stattdessen: Ich bin links, aber die Woken sind es nicht.

Was trennt Woke und Linke?

Zunächst einmal verbindet sie manches: Die woke Weltsicht ist von linken Emotionen getrieben: von dem Wunsch, Solidarität mit den Unterdrückten zu zeigen, und der Hoffnung, dass man der Verbrechen der Geschichte zumindest gedenken sollte, wenn man sie schon nicht wiedergutmachen kann. Diese Gefühle haben Woke und Linksliberale gemeinsam; auch ich teile sie. Im Fall der Woken werden sie aber von philosophischen Annahmen unterminiert, die in Wahrheit reaktionär sind, etwa der Idee, dass Menschen nur dann wirkliche Verbindungen mit anderen Menschen eingehen könnten, wenn sie demselben Stamm angehörten.

Und dieses Denken verbindet Woke und Rechte?

Unter anderem. Linke nehmen dagegen an, der Stamm könnte die ganze Welt sein. Menschen sind schliesslich nicht durch Blut und Boden verbunden, sondern durch Ideen, Freundschaften und gemeinsame Ziele. Natürlich hat man besondere Beziehungen zu Menschen aus dem eigenen Kulturkreis. Aber wenn man politisch denkt, muss man universalistisch denken. Zudem verbindet Woke und Rechte, dass aus ihrer Sicht alle Gerechtigkeitsansprüche in Wahrheit verkappte Machtansprüche sind. Manchmal stimmt das auch, etwa im Fall der angeblichen Entnazifizierung der Ukraine oder George W. Bushs vorgeblicher Absicht, den Nahen Osten zu demokratisieren. Aber man darf aus solchen Beispielen nicht schliessen, dass es immer so ist, denn dann könnte es keinen wahrhaften Wunsch oder Versuch mehr geben, Gerechtigkeit zu schaffen.

Wohnt der woken Haltung ein gewisser Fatalismus inne? Weil man meint, ohnehin nichts ändern zu können, und sich deshalb lieber in der Bewirtschaftung einer Opferrolle einrichtet?

Wokeness entspringt tatsächlich einer resignativen Haltung. Sowohl die Woken als auch die Reaktionäre gehen eigentlich davon aus, jeder Versuch, Fortschritt zu erzielen, sei entweder fehlgeschlagen oder münde in eine Verschlimmbesserung. Das ist eine weitere Gemeinsamkeit mit den Rechten: Auch Donald Trump stilisiert sich als Opfer. Der Unterschied ist, dass die Woken zumindest gute Absichten haben. Trump dagegen hatte nie die Absicht, einem Loser, wie er sich ausdrücken würde, zur Seite zu stehen.

Sie geben die Woken nicht verloren, auch wenn Sie meinen, deren Denken stehe dem der Rechten näher als jenem von Sozialistinnen wie Ihnen.

Weil es wichtig ist, dass wir uns vereinen! Die Faschisten tun dies bereits. Putin, Modi, Netanjahu, Erdogan, Trump oder Orban haben überhaupt kein Problem damit, voneinander zu lernen und Strategien auszutauschen. Wenn ich sage, dass die Woken linke Absichten und Emotionen teilen, unbewusst aber von denselben philosophischen Annahmen getrieben sind wie Reaktionäre, hoffe ich, ein paar Leute zum Nachdenken zu bringen. In den USA, Grossbritannien und den Niederlanden habe ich erlebt, dass einige meine These erst einmal skeptisch aufnahmen, am Ende aber überzeugt waren.

Sie halten den Universalismus hoch, also die Idee, dass gewisse Rechte und Pflichten für alle Menschen gelten müssen. Manche dürften Ihnen entgegenhalten, damit wollten Sie der ganzen Welt ein westliches Konzept aufzwingen.

Ich wusste, dass dieser Einwand kommen würde! In meinem Buch zitiere ich einige Denker aus Afrika und Indien, um zu zeigen, dass die Ideen, um die es hier geht, nicht nur westlich sind. So weist beispielsweise der ghanaische Philosoph Ato Sekyi-Otu darauf hin, die Ideale der Aufklärung seien in seiner Muttersprache Akan ebenso verwurzelt wie in Thomas Jeffersons Englisch. Er schreibt, die Europäer hätten den gemeinsamen Hoffnungen der Menschen einen formellen institutionellen Ausdruck verliehen, doch solle man dem Westen deswegen keine ausschliesslichen Eigentumsrechte an dieser Idee einräumen. 

Sie erheben nicht nur den Anspruch, Zustände zu beschreiben, sondern auch, diese zu verändern. Gibt es Politiker in Amerika oder Europa, in die Sie Hoffnungen setzen?

In den USA sehe ich Alexandria Ocasio-Cortez als neue Hoffnung der Linken, auch wenn sie für meine Begriffe ein wenig zu viel woken Jargon verwendet. Aber sie ist eine linke Sozialdemokratin und ein ausgezeichnetes politisches Talent. Ein Ticket mit Bernie Sanders und ihr hätte gute Chancen auf die Präsidentschaft gehabt, denn die Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ihre Vorschläge gut findet – solange sie nicht mit dem Schimpfwort «sozialistisch» versehen werden. Sanders wird aber nicht noch einmal antreten, dafür ist er zu alt. Und sie ist noch zu jung.

Hier in Deutschland vertritt Sahra Wagenknecht ähnliche Thesen wie Sie. Könnte sie eine Verbündete sein?

Ich möchte mich näher mit ihr befassen. Wir teilen einige Positionen. Dass eine Frau, die von ihrer Ostrente ihre Miete nicht mehr bezahlen kann, kein Gendersternchen braucht, verstehe ich. Ich könnte sogar nachvollziehen, wenn so jemand AfD wählt, auch wenn ich es nicht gutheisse. Aber von Wagenknechts aussenpolitischen Ansichten bin ich gar nicht begeistert. Ihre russlandfreundliche Haltung stört mich, aber auch ihre Flüchtlingspolitik und ihre Position zu Europa sind mir nicht klar. Sollte sie eine Partei gründen, würde ich sie trotz einiger Überschneidungen wahrscheinlich nicht wählen.

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