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Memoiren

«Ich bin wie ein Prinz aufgewachsen»

Der Schweizer Schauspieler Maximilian Schell kam als armer Kriegsflüchtling in die Schweiz. Dort fand er in einer Villa Unterschlupf. Nun veröffentlichte er seine Jugenderinnerungen.
Maximilian Schell: «Ich war damals noch sehr jung und ein Rebell.»ISOLDE OHLBAUM/LAIF

«Mit einer Mischung aus Glück, Zufall und Charme hatte es mein Vater, damals als Soldat in der Armee, geschafft, einen der schönsten Plätze für uns als Wohnort zu ergattern: die Villa Wesendonck, ein prachtvolles Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert, umgeben von einem nicht minder prachtvollen Park. Wie konnte es sein, dass ein so wundervolles Haus leer stand, während eine sechsköpfige Familie kein gemeinsames Dach über dem Kopf hatte! Er informierte sich, wem diese Villa gehörte, und ging schliesslich zu dem Besitzer, um ihn zu fragen, ob es für einen Immigranten aus Wien nicht eine Unterkunft gäbe. Der Besitzer, ein Oberst Rieter, wusste natürlich, worauf mein Vater anspielte. Er war sehr freundlich und sagte aber, dass die Villa nicht beheizbar sei und nur im Sommer bewohnt werden könne. Vater blieb hartnäckig, setzte sein ganzes gewinnendes Wesen ein – und hatte Erfolg! Nun, es gebe aber einen Dienstbotentrakt, wo jedes Zimmer einen Ofen habe und den man zur Not herrichten könne – es sei schliesslich Krieg. Mein Vater nahm dankbar an und zahlte einhundert Franken im Monat, und wir hatten – nach fünf Jahren Exil in der Fremde – endlich ein Zuhause. Endlich die Möglichkeit, wieder die ganze Familie zu vereinen! Mehr als zehn Jahre lebten wir letztlich dort.

Wir wuschen uns in Waschzubern, spielten in dem herrlichen Park und erhielten eine hervorragende Erziehung, voller Fantasie.

Es waren einfache Räumlichkeiten, ein kleines Nest in einem grossen Anwesen. Für uns aber war es ein Schloss. Und es war ja auch ein Schloss! Wir lebten zwar in beengten Verhältnissen unter dem Dach. Aber die grossartige Weite des Parks, der Blick weit über den Zürichsee, die Bögen und Säulen und Verzierungen. Die Büsten und Statuetten. Das grüne Oval des Teichs, in dessen Mitte ein steinerner Putto mit einer Gans rang. Besonders in Erinnerung blieb mir ein gemeisselter Stein, der einen Fisch darstellte, und ein Turnplatz, umgeben von Hecken. Mit einem Barren, einem Reck... Alles schon etwas vergammelt. Später spielte das Orchester vom Schauspielhaus Zürich dort Mendelssohns Musik zum «Sommernachtstraum».

Eigenartigerweise war das Bild von meinem Grossvater und mir in Inzersdorf in einem ähnlichen Park aufgenommen worden. Es zeigt die Fantasie und die Vielfalt, in der Menschen leben konnten. Das alles war nicht eng, das war eine unermessliche Erweiterung des Horizonts. Der Wahrnehmung der Welt. Wir konnten uns in der Villa Wesendonck entfalten, endlich!

Ich bin wie ein Prinz aufgewachsen. Immer wieder ging ich zur Allee, wo Richard Wagner «Tristan und Isolde» schrieb, oder in das Lavater-Häuschen, in dem Goethe zu Besuch war. Seltsam: Wir hatten nichts und wähnten uns doch im Besitz der Welt.

Die Villa Wesendonck hatte eine ganz seltsame Aura. Sehr viel von Wagners Oper «Tristan und Isolde» ist dort entstanden, und dort spielte – so Wagner – auch die schönste Liebesgeschichte, die in seinem Leben passierte. Mathilde Wesendonck, die Gattin des Besitzers Otto von Wesendonck, eines reichen Zürcher Kaufmanns, lebte in New York und Zürich. Dort lernten sie 1852 Richard Wagner kennen. Man befreundete sich rasch. Wagner wurde von Otto Wesendonck grosszügig finanziell unterstützt. Zuletzt wohnte Wagner in einem einfachen Fachwerkhaus, das er sein «Asyl» nannte. Es stand im Park, gleich neben der Villa, die Wesendonck sich hatte bauen lassen.

Und in der wir später wohnen sollten.

Zwischen Mathilde Wesendonck und Wagner kam es zu mehr als blosser Freundschaft. Sie betrachtete sich als seine Seelenverwandte. Sie brachte das Verständnis für ihn auf, das seine Frau offenbar nicht aufbringen konnte. Jedenfalls wurde sie ihm eine Muse. Man kann davon ausgehen, dass die Liebe, die sich entspann, nicht platonisch blieb. Und doch war die eigentümliche Dreieckssituation zwischen Wagner und dem Ehepaar Wesendonck eine wichtige Inspiration für seine Oper «Tristan und Isolde». Im Grunde ist diese Oper ein musikalisches Denkmal für Mathilde Wesendonck – und sie war Wagners «Isolde».

Übrigens vertonte der grosse Komponist auch einige von Mathilde Wesendoncks Gedichten, die «Wesendonck-Lieder», wie man sie heute nennt. Ausserdem hat er ihr das Vorspiel zur Walküre gewidmet. Die Initialen «G.s.M.!» stehen nach allgemeiner Auffassung für «Gesegnet sei Mathilde!».

So lebte Richard Wagner also mit den Wesendoncks in genau dem wunderschönen Park, in dem auch ich meine jugendlichen Mussestunden zubringen durfte, und wäre womöglich noch länger dort geblieben, wenn nicht seine Frau Minna 1858 einen Streit provoziert hätte, der das Idyll zerstörte und Wagner zur Abreise nach Venedig nötigte – nach Venedig, der Totenstadt – nicht Wien...

Mein Zimmer grenzte an das Haupthaus. Eines Tages öffnete ich verbotenerweise das Fenster, kletterte in einen Gang, von dem aus man das Haupthaus erreichen konnte. Zu meiner Überraschung war die Tür offen, sodass man hinüber in den Herrschaftsteil der Villa gelangen konnte. Es war eine unglaublich romantische, herrschaftliche, fast göttliche Atmosphäre. Ich war damals noch sehr jung und ein Rebell. Ich ging die gelbliche Treppe hinauf – nicht gelblich, auch nicht golden. Es war eine Farbe, die man kaum beschreiben kann. Rötlich-golden. (...) Die Treppe war aus Marmor. Bis ich schliesslich im roten Salon ankam, von dem man durch drei breite, grosse, runde Fenster bis auf den Zürichsee sehen konnte.

Merkwürdigerweise – als ich Jahre später in Bonn den Prinzen von Homburg spielte, übrigens mit sensationellem Misserfolg, ging ich auf den alten Friedhof, um das Grab von Beethovens Vater zu suchen. Und plötzlich stand ich vor einem beeindruckenden Monument, das von schwerem, kunstvoll geschmiedetem Eisen umzäunt und von einem Engel gekrönt war. «Otto Mathilde Wesendonck» stand auf dem Stein. Ich hatte das Grabmal meiner postumen Gastgeber gefunden.»

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