Tom hellat
Am Stephanstag kleidet man sich normalerweise in die wertvolle Seide des Wunschlos-Glücklichseins. Wenn es so beliebt, besucht man dann gefühlsselig ein klassisches Konzert, wo harmonische Herrlichkeiten in milder Glut leuchten und Knabenchöre in süsslicher Ergriffenheit jubilieren. Doch: Nichts da! Der Dirigent Thomas Baldinger und sein Chor Musica Vocalis Rara setzen am 26. Dezember ein ganz anderes Programm. Mit dem «Sonnengesang» der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina steht ein modernes und unkonventionelles Werk im Mittelpunkt des weihnachtlichen Konzerts (neben Motetten von Jacobus Gallus). Ist das nicht etwas zu sperrig und kompliziert? «Überhaupt nicht, Gubaidulinas Tonsprache ist von kunstvoller Schlichtheit – für mich ist es einfach schöne Musik», antwortet Baldinger.
Eine Musik also, deren Gedankentiefe und Gefühlsdichte ohne allen missionarischen Eifer auch die Verächter zeitgenössischer Musik überzeugen müsste. Diesen Ansatz verfolgt Baldinger mit seinem von ihm gegründeten Chor nun schon seit über 20 Jahren, und das äusserst erfolgreich. In den Programmen der Musica Vocalis Rara hat sich als Schwerpunkt die regelmässige Beschäftigung mit neuer und unbekannter Musik etabliert. So ist auch das diesjährige Programm von Originalität, Exklusivität und hohem künstlerischem Anspruch geprägt. «Wir wollen den Leuten etwas bieten, das sowohl neu als auch faszinierend ist», sagt Baldinger. Dass die Musik der Sofia Gubaidulina viele faszinierende Momente enthält, steht ausser Frage. Oft wurzelt sie in einer weltoffenen Religiosität, die das Fundament ihres Wirkens bildet – Komponieren als Wegweiser zur Religion. Für Baldinger ist aber «die Musik selbst die Religion».
Doch die Gretchenfrage der Musik betrifft nicht die Religion, sondern ihre Interpretation. Baldinger ist da eine analytische, ja fast wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Notentext wichtig. «Ich halte mich an das, was in der Partitur steht», bemerkt er, um aber gleich hinterherzuschicken: «Soweit es verständlich ist.» Masst sich hier jemand an, seine Interpretation über die Komposition zu stellen? Weiss hier jemand im flüchtigen Bereich der Kunst, was falsch und was richtig ist? Keineswegs: Baldinger ist jemand, der nicht blind drauflos interpretiert, sondern versucht, die aufzuführenden Werke zu verstehen und in einen Zusammenhang zu stellen. «Ich betätige mich gerne als Detektiv, der mit der Lupe den Geheimnissen der Musik nachspürt», erklärt Baldinger.
Bei solch kopflastiger Arbeit fragt man sich, ob da das Gefühl nicht etwas zu kurz komme. Doch keine Angst, Baldinger stellt sozusagen eine lebende Möbiusschlaufe aus Verstand und Gefühl dar: «Bei mir soll herzhaft musiziert werden», womit aber nicht kopfloses Musizieren gemeint ist.
Konzert Aarau, katholische Kirche, 26. 12., 17 Uhr. Baden, reformierte Kirche, 27. 12., 17 Uhr.
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