notifications
Literatur

Hohler: «Vielleicht sollten wir alle schon zu Lebzeiten ein Beerdigungsfest machen»

In Franz Hohlers neuem Buch spielt das Gleis 4 seines Wohnortbahnhofs in Zürich Oerlikon eine wichtige Rolle. Als er anfing zu schreiben, habe er nicht gewusst, wie die Geschichte enden werde. Genau das hat ihm grossen Spass gemacht.

Auf Gleis 4 am Bahnhof Zürich Oerlikon stirbt der Protagonist (73) von Franz Hohlers neuem Buch. Auf Gleis 4 steht an einem Julitag auch Franz Hohler (70), sehr munter und gesund. Seit vielen Jahren ist das Zürcher Quartier Wohnort des Schriftstellers und Kabarettisten. In Hohlers neuem Roman «Gleis 4» wird es zu einem Schauplatz, wo die alte Schweiz auf die heutige trifft.

Franz Hohler, sind Sie plötzlich zum Feministen geworden?

Franz Hohler: Spielen Sie darauf an, dass es im Roman drei weibliche Hauptfiguren gibt? Das ist mir eher passiert, als dass ich es beabsichtigt habe. Weil ich vom Anfangsbild ausgegangen bin, dass ein Mann einer Frau den Koffer tragen will und dann tot zusammenbricht. Und die Frau merkt, dass sie wissen will, was da passiert ist. Sie beginnt sich mit dem Schicksal des Toten zu beschäftigen. So findet sie heraus, wer die Frau des Toten ist. Und da ist auch noch ihre erwachsene Tochter. Plötzlich stehen drei Frauen im Mittelpunkt.

Ich fragte auch nach Ihrem Feminismus, weil die männlichen Figuren so schlecht wegkommen.

Ausser die Hauptfigur! Aber es stimmt, sonst kommen die Frauen deutlich besser weg.

Warum?

Die Geschichte, die ich erzähle, will es so.

Das Buch hat einen Krimiplot, haben Sie das nötig?

Eine Weile wollte ich das Buch als Kriminalroman ankündigen und dann habe ich gedacht: Lieber ein Roman, den man mit einer gewissen Spannung liest, als die Etikette «das ist im Fall ein Krimi». Ich hatte im Übrigen kein fertiges Schema vor mir. Als ich anfing, wusste ich nicht, wer der Mann ist, der am Gleis tot zusammenbricht, und wer die Frau. Insofern habe ich die Geschichte auch mir selber erzählt. Mir hat das ausgesprochen Spass gemacht, die Handlung laufend zu erfinden und mir zu überlegen: Was hat zu diesem Punkt und zu dieser Konstellation geführt?

In Ihren Kurzerzählungen machen Sie aus einem kleinen Punkt eine ganze Welt. Was reizt Sie an der grossen Gattung Roman?

Die Kurzgeschichte richtet den Spot auf ein einzelnes Motiv und leuchtet das aus. Im Roman geht mal hier, mal dort ein Scheinwerfer an. Es wird eine grössere Landschaft beleuchtet, in der man spazieren kann und in der Figuren auftauchen und wieder verschwinden. Das ist eine andere Form. Ich spiele sehr gerne mit verschiedenen Formen. Wenn ich Bauer wäre, würde ich auf keinen Fall Monokultur machen, sondern ein Feld auch mal brachliegen lassen und dann überlegen: Was mache ich dort? Dort ist schon lange nichts mehr gewachsen, da muss ich wieder mal pflügen.

1981 ging Ihre Made nach Hongkong, im neuen Roman kommt die Welt in die Schweiz.

Ja, sie kommt jetzt zurück. Das ist es, was heute tatsächlich um uns herum passiert. Das liegt auch in der Logik der Geschichte.

Weshalb?

Zwei Welten prallen da aufeinander. Die alte Schweiz und die jetzige. Meine Generation hat die alte Schweiz noch erlebt, die von den Schweizern geprägt wurde.

Sie meinen: nur von Schweizern?

Vor allem von ihnen. In meiner Primarschulklasse gab es einen einzigen Italiener. Dabei haben die Italiener schon in den 1950er-Jahren dieses Land mitgeprägt, etwa indem sie alle unsere Staudämme gebaut haben – alle. Wir hätten die Elektrizitätsversorgung nicht ohne die italienischen Arbeiter. Von den Tunnels gar nicht zu sprechen. Aber diese Baustellen lagen irgendwo in den Alpentälern und wurden im Mittelland kaum wahrgenommen, trotzdem kam schon bald die erste Überfremdungsinitiative. Und heute leben wir als Dorf der Welt. Das wollte ich drin haben in der Handlung, weil der Roman abgesehen von den Rückblenden in der Jetzt-Zeit spielt.

Ihr Protagonist ist im selben Alter wie Sie und stirbt.

Ja, das hat mir auch leid getan (lacht).

Setzen Sie sich anhand dieser Figur auch mit Ihrer Sterblichkeit auseinander?

Klar, man kann jederzeit zusammenbrechen. Das passiert sogar bedeutend jüngeren Leuten. Und wenn man älter wird, rückt auch der Tod näher als eine Möglichkeit, von der man irgendwie doch nicht glaubt, dass sie eintreten wird (lacht).

Der Tod grundiert den Roman auch sonst stark.

Er taucht als Motiv mehrmals auf, stimmt. Auch ist er im Roman ein Moment der Abrechnung, weil er einem in Erinnerung ruft, dass man gut daran täte, mit sich oder den anderen ins Reine zu kommen.

Muss man denn sterben, um mit den Dingen ins Reine zu kommen?

Wir sind gewöhnlich keine Meister darin, unsere Gefühle zu äussern. Und wenn ich höre, was an Abdankungen geredet wird, von «herzensguter Mensch» bis «wir haben Dich wahnsinnig gern», dann denke ich: Es wäre schön, wenn die das selber auch gehört hätten. Vielleicht sollten wir alle schon zu Lebzeiten ein Beerdigungsfest machen und uns anhören, was man an uns schätzt.

Da Ihr Protagonist in der ersten Szene stirbt, bietet er viel Projektionsfläche. Zudem ist er Gentleman und so alt wie Sie – ein ideales Alter Ego?

Sein Schicksal ist ganz anders als meines. Und bewusst habe ich keine Parallelen gezogen. Aber wir haben auch noch ein Unbewusstes – so was hört man wenigstens aus psychologisch gut unterrichteten Kreisen ... Und natürlich, um sich die Welt seiner Jugendzeit zu vergegenwärtigen, sind eigene Erinnerungen schon praktisch. Ich hatte allerdings damals keine Ahnung vom Ausmass gewisser Dinge. Etwa vom Schicksal der Verdingkinder. Erst später merkte ich: Da lief neben meiner Welt eine zweite Welt her, die ich kaum zur Kenntnis genommen habe.

Verdingkinder sind seit einigen Jahren ein Thema – nun auch in Ihrem Roman. Was reizte Sie daran?

Es waren damals mögliche Schicksale. In den letzten Jahren ist vermehrt die Rede davon, weil eine ganze Generation endlich den Mut hat, davon zu erzählen. Die, die so was erleben mussten, haben den eigenen Kindern gegenüber aus Scham oft geschwiegen. Das Verhältnis Eltern - Kind lässt eine derartige Demontage der eigenen Person fast nicht zu, weil man so gnadenlos drangekommen ist. Das kennt man auch von Holocaust-Opfern. Man hat es zwar überlebt – und das wäre die Stärke daran. Aber man tritt plötzlich den eigenen Kindern gegenüber als Opfer auf.

Kannten Sie in Ihrer Jugend Verdingkinder?

Mein Grossvater war eines. Dort war ich zwar die Enkelgeneration, aber er hat mir kaum etwas erzählt. Nur, er habe eine sehr harte Jugend gehabt; er sei Verdingbub gewesen und viel geschlagen worden. Und damals habe ich dazu einfach gedacht: «Jessesgott». Heute bedaure ich, dass ich ihn nicht mehr danach befragt habe. Doch sein Schicksal hat mich immer beschäftigt, gerade weil es ein Schicksal war, worüber man später hundertfach gelesen und gehört hat.

Die heimliche Hauptrolle in Ihrem Buch spielen Ämter und Behörden. Hegen Sie eine kleine Leidenschaft für diese?

Ich gehe gern auf Ämter und schaue, was mir da entgegenkommt. Das Bild und Selbstbild der Behörden hat sich geändert, von einer übergeordneten Instanz zu so etwas wie einer Dienstleistungsinstanz. In dieser Hinsicht liegen Lichtjahre zwischen meiner Kindheit und heute. Etwa, was Bevormundung betrifft, also dass man einer jungen, ledigen Mutter ihr Kind weggenommen hat, wie im Roman. Das war damals eine übliche Praxis. Auf den heutigen Ämtern arbeiten Menschen, die die frühere Haltung genauso ablehnen wie Sie und ich. Trotzdem – man liest oft Geschichten, bei denen man denkt: Das kann doch nicht sein! Etwa, wenn die Polizei abends um neun einen Kontrollbesuch macht bei Menschen, die sich einbürgern lassen wollen.

Heute noch?

Eben. Da denkt man an die «Schweizermacher» und wundert sich, dass es das noch gibt. Aber der Mensch kann in seiner Unvollkommenheit überall auftauchen, in jedem Amt, in jedem Beruf.

Im Buch schliessen sich am Ende die Kreise. Ist das Ihre romantische Sehnsucht nach Weltordnung?

Die Geschichte muss ihre Ordnung haben, nicht die Welt. Aber dass ein Schlüssel vom Buchanfang am Schluss in ein Schloss passt; das gefällt mir am Geschichtenerzählen. Dass man Motive setzen kann, über die man denkt: Dich brauche ich später wieder. Ich wusste auch nicht, was das für ein Schlüssel ist. Auch habe ich als der Geschichtenerzähler erst ganz am Schluss erfahren, wer der Vater der Hauptfigur ist (lacht). Da dachte ich: «Ja verreckt, der ist es!?»

Kommentare (0)