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Popkultur-Glosse

Hier wurde Fremdschämen geboren: Warum gibt es eigentlich keine Talkshows mehr?

Diese Woche ist US-Moderator Jerry Springer gestorben. In seiner Talkshow haben sich Tausende Menschen vor laufender Kamera alles Mögliche an den Kopf geworfen – egal ob Beleidigungen oder Möbel! Es war der absolute TV-Kult, und ich frage mich: Wo sind eigentlich all die Talkshows plötzlich hin?

Hans Meiser, das deutsche Talkshow-Urgestein, startete 1992 seine Erfolgsstory.
Bild: Bild: imago

In den 90er-Jahren gab es sie wie Sand am Meer, nicht nur in den USA, sondern auch im deutschen TV: Daily Talkshows. «Arabella», «Hans Meiser», «Andreas Türck», «Vera am Mittag», «Die Oliver Geissen Show», «Jörg Pilawa» – als stolzes Fernsehkind habe ich sie alle geschaut. Es war fast schwer, es nicht zu tun, schliesslich liefen sie jeden Nachmittag auf diversen Sendern. Irgendwann gab es sogar eine eigene «Best of»-Sendung: Mit «Talk, Talk, Talk» präsentierte Sonja Kraus quietschfidel die «Highlights» der Woche.

Österreicherin Arabella Kiesbauer moderierte nach ihrer Talkshow u. a. den Eurovision Song Contest.
Bild: Bild: imago

Am Anfang waren es nicht nur Vollpfosten, die sich da zum Affen machten. Es wurde sogar über echte Probleme diskutiert. Aber die Produzenten merkten schnell, was heute jeder TV-Praktikant weiss: Vollpfosten bringen Quote. Also gab es bald mal so intellektuelle Schmankerl wie «Mein Freund ist pervers» oder «XXL Mama – du bist zu fett, um eine gute Mutter zu sein».

Es überrascht wenig, dass da relativ schnell die Gäste ausgingen. Also wurde gefaket. Irgendwann entdeckten Komiker die Talkshows für ihre Streiche. Ein verkleideter Hape Kerkeling belustigte zum Beispiel die Zuschauer und schockierte Moderator Peter Imhof, als er so tat, als würde er bei ihm an die Kulisse pinkeln.

Sacha Baron Cohen brachte in seinem «Brüno»-Film sogar ein ganzes (echtes!) Talkshow-Publikum auf die Palme, als er erzählte, dass er ein Baby aus Afrika adoptiert habe – indem er es gegen einen iPod tauschte – und seinem neuen Sohn den «traditionellen afrikanischen Namen» O. J. gab.

Aber spätestens als mir manche «Gäste» plötzlich bekannt vorkamen, wurde klar, dass die Luft raus ist. Ein letztes Aufbäumen gab’s noch mit den Gerichtssendungen, dann war’s irgendwann einfach vorbei. Warum?

Vermutlich, weil sich die Vollpfosten mehr und mehr ins Internet verdrückt haben und dort auf Millionen Gleichgesinnte trafen. Und wer berühmt werden will, versucht sein Glück längst lieber in Reality-Shows. Da muss man noch nicht mal mehr reden, sondern entweder nur rumsitzen, wie zum Anfang bei «Big Brother» oder einfach hübsch aussehen wie beim «Bachelor». Im Streaming-Zeitalter gibt es sogar mehr Auswahl denn je.

Um mich mal kurz selbst zu zitieren: Trash-TV will einfach nicht sterben . Talkshows waren nur der Anfang, aber damals war das Internet noch relativ neu, es gab noch keine Social Media, und man war immerhin schnell wieder vergessen.

Ausser man hatte das Pech, nach einem harmlosen Talkshow-Auftritt von Stefan Raab in einen ganzen Chart-Hit verwurstelt zu werden.

Und es konnte ja auch niemand wissen, dass irgendwann alles wieder ausgegraben wird und im Internet ein Eigenleben entwickelt. Auch der verstorbene Jerry Springer postete regelmässig Ausschnitte aus seiner Show auf Instagram und Youtube. Material gab es genug, denn sie lief bis 2018 ganze 26 Jahre lang. Und damit sehr viel länger als praktisch alle anderen Talkshows. Vielleicht lag es daran, dass es bei ihm eben von Anfang an weniger ums Reden ging.

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