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Grosses Interview

Bassam Tibi: «Friedrich Merz machte aus meiner europäischen Leitkultur eine deutsche – und so machte er sie kaputt»

Bassam Tibi, einer der wichtigsten syrischstämmigen Intellektuellen, spricht erstmals darüber, wie er den Fall des Assad-Regimes und die Zukunft seines Geburtslandes sieht – und er erklärt, warum er die Hoffnung auf einen europäischen Islam trotz allem nicht aufgibt.
«Ich wurde aus allen deutschen Medien entfernt. Das ist der Dank für sechzig Jahre in Deutschland»: Wissenschafter Tibi.
Bild: Antje Berghäuser

Herr Tibi, Sie stammen aus einer sunnitischen Damaszener Gelehrtenfamilie, die durch das Assad-Regime alles verlor. Im Dezember fiel dieses Regime nach mehr als einem halben Jahrhundert. Was dachten Sie, als Sie davon erfuhren?

Bassam Tibi: Ich habe geweint. Im Dezember, als Sie mich um ein Interview baten, hätte ich noch nicht darüber sprechen können. Laut der Stadtgeschichte von Damaskus, die 1928 erschien, stellte meine Familie über Jahrhunderte die führenden Gelehrten von Damaskus. Das alawitische Regime, das mit Assad an die Macht kam, löschte die Tibis aus, in Syrien lebt keiner mehr von ihnen. Ich kam 1962 nach Deutschland, um zu studieren. Nach dem Abschluss meiner Doktorarbeit im Oktober 1970 wollte ich zurückkehren, doch im November putschte sich Hafis al-Assad an die Macht. Er gehörte zur Baath-Partei, einer säkularen, panarabischen Bewegung. Aber das war nur eine Maske, dahinter standen die Alawiten: Sie machen 11 Prozent der Bevölkerung aus, doch am Ende seiner Herrschaft stellten sie 90 Prozent aller Offiziere.

Hätten Sie jemals erwartet, dass das Regime 54 Jahre überleben würde?

Nein. Seit Syrien 1946 unabhängig wurde, hatte sich kein Regime länger als ein Jahr gehalten. Aber ich wurde auch vom Zusammenbruch des Regimes überrascht. Seit Assads Putsch war ich nicht mehr in Syrien. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Baschar die Macht. 2001 besuchte Baschar Berlin. Gerhard Schröder lud mich zu einem Abendessen mit ihm ein. Damals lag meine Mutter im Sterben. Ich schüttelte Baschar die Hand und sagte: «Sie kennen unsere Kultur: Das Höchste ist die Mutter, ich will sie noch einmal sehen.» Er sagte, das sei kein Problem, ich solle mit dem syrischen Botschafter in Berlin reden. Der Botschafter war ein Offizier des Muchabarat, des Geheimdiensts, der Schlimmsten der Schlimmen. Er sagte mir: «Wir wissen, was Sie tun. Und wir werden Sie entsprechend empfangen.» Ich verstand ihn und ging nicht nach Damaskus.

Was unterscheidet Alawiten und Sunniten?

Als der Prophet starb, stand im Koran nicht, wie es weitergehen sollte. Ali war einer der Nachfolger des Propheten. Für uns Sunniten ist er ein Kalif, ein religiöser Führer. Für die Schiiten ist er dagegen ein Heiliger. Der schiitische Islam existierte im Untergrund, und wie jede Untergrundbewegung wurde er sektiererisch. Es gibt mindestens dreissig verschiedene Ausrichtungen der Schia. Die Alawiten sind eine davon.

Trotz dieses religiösen Hintergrunds haben Sie immer betont, der sunnitisch-alawitische Konflikt sei vor allem ein Kampf um Ressourcen.

Es ging um Macht, Geld und Positionen. Das hat auch demografische Gründe: Als ich Syrien verlassen habe, lebten dort drei Millionen Menschen. Heute sind es 23 Millionen. Wenn einer zehn Kinder hat und sie nicht ernähren kann, ernähren sie sich selbst durch Diebstahl und Gewalt.

Wie konnte sich ein Regime, das sich auf eine so kleine Minderheit stützte, so lange halten?

So wie das Nazi-Regime nicht nur aus Hitler und einer Clique um ihn herum bestand, bestand auch das alawitische Regime nicht nur aus Assad und ein paar anderen. Es war ein Herrschaftssystem alawitischer Clans. Die Alawiten hatten alle Schlüsselpositionen in den Geheimdiensten und der Armee inne. So gelang es ihnen, alle Aufstände niederzuschlagen: 1982 in Hama, wo ein ganzer Stadtteil dem Erdboden gleichgemacht wurde. Und 2011 schlugen sie den Arabischen Frühling nieder.

Warum ist das Regime gerade jetzt zusammengebrochen?

Das hatte interne und externe Gründe. Die russische Luftwaffe hat jeden Aufstand mit Bombardements beantwortet. Doch mit dem Krieg in der Ukraine musste Russland seine Ressourcen anders einsetzen. Iran, ein weiterer Unterstützer, wurde durch israelische Angriffe geschwächt. Hinzu kam, dass die syrische Armee demoralisiert war. Auch Alawiten wollten nicht auf andere Syrer schiessen. Über 2000 Soldaten legten die Waffen nieder und flohen in den Irak. Und die wirtschaftliche Lage war katastrophal.

Nun regieren Islamisten das Land. War das Alawiten-Regime im Vergleich mit diesen nicht das kleinere Übel?

Im Gegenteil! Dies zu glauben, war einer der grossen Irrtümer des Westens. Ich weiss um die Gefahren des Islamismus. Die erste Morddrohung meines Lebens erhielt ich von Islamisten, nachdem ich im November 1979 in Kairo einen Vortrag über Islam und Säkularisierung gehalten hatte. Ich galt nun als Kafir, als Ungläubiger. Nachdem ich 1990 zusammen mit dem israelischen Botschafter im ZDF aufgetreten war, erhielt ich erneut Morddrohungen. Zwei Jahre lang lebte ich mit Personenschützern. Aber das alawitische Regime war Faschismus der schlimmsten Sorte. Es hat eine Million Sunniten ermordet. So schlimm kann es nicht mehr werden.

«Es ging um Macht, Geld und Positionen»: Bürger in Damaskus feiern das Ende des Assad-Regimes (27. Dezember 2024).
Bild: E. Sansar/Anadolu

2017, in einem Beitrag für die «Basler Zeitung», haben Sie der Schweizer Juristin Carla Del Ponte zugestimmt, die sagte, in Syrien seien alle politischen Akteure böse. Gemessen daran klingen Sie heute erstaunlich optimistisch.

Ahmed al-Scharaa, der neue Staatschef, hat gesagt, die Syrer seien kriegsmüde und das werde er respektieren. Heute können sich die Leute frei bewegen und frei reden. Als die Rebellen in Damaskus einmarschierten, befürchtete ich ein Massaker. Aber es blieb friedlich. Ich ärgere mich, wenn deutsche Medien von einem Regimewechsel reden. Es ist eine Befreiung: In Saidnaya, dem grössten Gefängnis des Landes, waren zuletzt 240'000 Menschen inhaftiert und wurden schwerst gefoltert. Es glich einem Konzentrationslager. Bis zu 45 Personen wurden in einem Raum zusammengepfercht.

Könnten Sie heute nach Syrien zurückkehren oder würden die neuen Machthaber Ihnen etwas antun?

Das weiss ich nicht. Aber ich würde eine Rückkehr seelisch nicht verkraften. In Al-Malki, dem Luxusviertel von Damaskus, wo früher überall Tibis lebten, gibt es seit Jahrzehnten keine Tibis mehr. Zuletzt lebten dort die Top-Offiziere der Alawiten, die nun geflohen sind. Ich weiss nicht einmal, wo meine Eltern begraben sind. Aber ich würde gerne noch einmal durch die Innenstadt von Damaskus laufen.

Befürchten Sie nicht, dass sich die Sunniten irgendwann doch noch an den Alawiten rächen könnten? Als Minderheit sind diese nun schutzlos.

Ich bin vorsichtig optimistisch, dass dies nicht geschehen wird. Ich habe gehört, dass ein alawitischer Geheimdienstoffizier aus Damaskus nach Latakia geflohen ist, eine mehrheitlich alawitische Hafenstadt. Al-Scharaa schickte Kämpfer dorthin, um ihn verhaften zu lassen. Daraufhin töteten die Alawiten siebzehn sunnitische Kämpfer, doch die Sunniten schossen nicht zurück. Einige führende Alawiten haben sich in Nordsyrien versteckt oder sind über den Libanon nach Lateinamerika ausgereist, so wie einige Nazis 1945 nach Argentinien. Manche kommen auch nach Deutschland. Wenn die deutsche Innenministerin Nancy Faeser sagt, diejenigen unter ihnen, die Verbrechen begangen hätten, würden die volle Härte des Gesetzes spüren, glaube ich dieser Rhetorik nicht.

In Syrien lebt eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Die neuen Machthaber haben den Christen ihren Schutz zugesichert. Kann man sich darauf verlassen?

Ich glaube der neuen Regierung. Es gibt im Islam eine klassische Form der Toleranz: Omar, der zweite Kalif, entschuldigte sich nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 638 beim Patriarchen Sophronios dafür, dass er dessen Angebot, das islamische Mittagsgebet am Grab Christi zu verrichten, nicht annahm. Er fürchtete, seine eifernden Nachfolger würden einen Ort, an dem er gebetet hatte, für den Islam in Anspruch nehmen. Diese Toleranz blieb in Damaskus erhalten, bis 1970 die Alawiten kamen. Meine Freunde in der Schule waren Christen, Armenier und Kurden. Unter Assad erhielten Christen hohe Positionen, um sie und die Sunniten gegeneinander auszuspielen.

Welches sind die grössten Probleme, vor denen Syrien nun steht?

Das grösste Problem sind die Kurden, denn sie wollen selbstständig werden. Nach dem Ersten Weltkrieg, als das Osmanische Reich aufgeteilt wurde, erhielten sie als einzige kein Stück vom Kuchen. Heute leben sie in vier Ländern, von denen natürlich keines ein Interesse an einem Kurdenstaat hat: in der Türkei, Syrien, Iran und Irak. Die Alawiten sind erst einmal still. Probleme könnten mit den Palästinensern entstehen: Fast eine Million von ihnen lebt in Syrien. Bisher sind sie marginalisiert.

Was bedeutet der Fall des Regimes für die Region? Darf sich Israel gestärkt fühlen?

Ja. Wenige Tage nach dem Ende der alawitischen Herrschaft hat die israelische Luftwaffe die verbliebene Infrastruktur der syrischen Armee vernichtet. Ich habe mich gewundert, dass die ganze Welt dazu geschwiegen hat. Den Palästinensern wird Al-Scharaa nicht zur Hilfe kommen können, denn er hat keine Streitkräfte mehr.

In Deutschland leben rund 5 Prozent aller Syrer. Werden innersyrische Konflikte auch in Europa ausgetragen?

Soweit ich weiss, eher selten, auch wenn ich von einigen Übergriffen syrischer Sunniten gegen Alawiten hier in Deutschland gehört habe. Migranten bringen immer die Konflikte aus ihrer Heimat mit. Ich sagte den Deutschen immer, dass nicht nur Arbeitskräfte aus Syrien kommen, sondern auch die organisierten Clans von Damaskus und Aleppo. Daraufhin wurde mir unterstellt, ich würde gegen Migranten hetzen. Die Deutschen sind eine neurotische Nation.

Sie haben Deutschland immer wieder kritisiert, und zwar gerade das akademische Milieu. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, erst in Harvard hätten Sie gelernt, dass das Denken eines Intellektuellen auch politische Folgen haben könne. Sind deutsche Akademiker weltfremd?

Rede ich mit deutschen Intellektuellen, stosse ich auf eine Gesinnungsethik, die von einer Mischung aus Empörungs- und Betroffenheitsrhetorik geprägt ist. Das hat mit der Romantik zu tun. Rüdiger Safranski hat geschrieben, Romantik sei das Unbehagen an der Normalität. Normal ist es, zu sagen, dass Migration Probleme mit sich bringt. Für manche Deutsche ist das schon ausländerfeindlich. Kritik wird mit einer feindseligen Haltung verwechselt. So wird, wer den Islam kritisiert, als islamophob verunglimpft.

Was Sie kritisieren, hat mit der AfD eine Gegenreaktion hervorgebracht, die ebenfalls zum Fürchten ist. Macht Ihnen der Aufstieg dieser Partei Sorgen?

Wer dieser Partei angehört, ist mein Feind. Der Philosoph Helmuth Plessner hat einmal geschrieben, die Deutschen neigten zum Extremismus. Es gibt Probleme, die die AfD anspricht, aber sie spricht sie auf deutsche Weise an. Deutscher als die AfD sind nur die Grünen. Wenn ich den Deutschen etwas empfehle, meide ich das Wort «deutsch». Ich bin der Schöpfer des Begriffs «Leitkultur», aber ich rede ausdrücklich von einer europäischen Leitkultur. Dabei berufe ich mich auf Immanuel Kant, der für mich ein Europäer ist.

Hat es einen Grund, dass Sie von einer europäischen und nicht von einer westlichen Leitkultur reden?

«Europäisch» und «westlich» sind für mich Synonyme. Europa ist die Heimat der westlichen Leitkultur. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington schrieb, die USA seien ein westlich-europäisches Land. Dafür wurde ihm zu Unrecht Rassismus unterstellt.

Noch einmal zur AfD: Ohne eine Wende in der Migrationspolitik wird diese kaum zu schwächen sein. Dazu würden mehr Ausschaffungen gehören. Ob Deutschland Personen nach Syrien zurückschicken sollte, ist umstritten. Würde die Sicherheitslage Ausschaffungen zulassen?

Ja, denn politische Verfolgung gibt es derzeit nicht. Vorher verschwanden Leute über Nacht. Aber seien wir ehrlich: Ein Syrer, der hier in Göttingen vom Bürgergeld lebt, wäre in seiner Heimat sehr viel ärmer. Alle wollen nach Deutschland, weil sie hören, dass hier Bürgergeld, eine Wohnung und eine Krankenversicherung erhält, wer nur das magische Wort «Asyl» ausspricht. Hinzu kommt, dass «Familiennachzug» für einen Syrer etwas anderes bedeutet als für einen Deutschen: Als ich 1962 aus Damaskus abreiste, wurde ich von 150 Angehörigen meines Clans auf dem Flughafen verabschiedet.

Durch den Begriff «Leitkultur» wurden Sie einem breiten Publikum bekannt, auch weil konservative Politiker diesen aufgenommen und vereinnahmt haben. Ist das für Sie ein Glück oder ein Unglück?

Ich konnte Friedrich Merz leider nicht erklären, warum meine Leitkultur eine europäische ist. Er machte eine deutsche daraus, und so machte er sie kaputt. Der Historiker Heinrich August Winkler sagt, die Lösung für Deutschland sei die westliche Kultur. Für die Integration von Ausländern brauchen Sie Konzepte; sie geschieht nicht von selbst. Ich habe zwei Konzepte entwickelt. Das eine ist die Leitkultur, das andere der Euro-Islam. Ich habe in 22 islamischen Ländern gelebt. Als ich zum ersten Mal nach Ägypten kam, sah ich, dass dort ein anderer Islam existierte als in Syrien. Genauso ging es mir im Senegal. Der liebste Islam ist mir der tolerante der Indonesier. Wenn sich der Islam an all diese lokalen Kulturen angepasst hat, warum sollte dann in Deutschland kein europäischer Islam entstehen, der sich an das Grundgesetz anpasst?

Weil Ihre Idee bislang ein Gedankenexperiment geblieben ist. Damit mehr aus ihr wird, müsste sie unter der Masse der Muslime Verbreitung finden.

Max Weber sagte, Politik sei das Bohren dicker Bretter. Die europäische Denkweise entstand in Frankreich: «Cogito ergo sum», «ich denke, also bin ich», sagte René Descartes. Königin Christina von Schweden las, was er schrieb, und lud ihn nach Stockholm ein. Es braucht immer Zeit, bis solche Ideen auch die Putzfrau erreichen. Aber der Rationalismus hat sich in Frankreich durchgesetzt. Man muss Geduld haben und daran arbeiten. Würde ich aufgeben, müsste ich mich umbringen.

Herr Tibi, als ich von den jüngsten Ereignissen in Syrien erfuhr, war einer meiner ersten Gedanken, Sie zu befragen. Woran liegt es, dass Sie in der deutschen Öffentlichkeit kaum noch präsent sind?

Mein Freund, der jüdische Historiker Michael Wolffssohn, hat einmal geschrieben: «Tibi wird isoliert, gemieden und angefeindet.» Es gibt kritische Meinungen, die in Deutschland nicht genehm sind. Ich war ein gefragter Experte im deutschen Fernsehen und schrieb regelmässig in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und anderen grossen Blättern. Doch dann wurde ich aus allen Medien entfernt. Das ist der Dank für sechzig Jahre in Deutschland.

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