notifications
Zurich Film Festival

Gross war die sommerliche Aufregung um eine vermeintliche Cancel Culture bei Winnetou. Doch dieser junge Häuptling ist den Ärger nicht wert

Nach zwei Vorstellungen am ZFF steht es schlecht um einen Schweizer Kinostart für den Winnetou-Kinderfilm. Das ist bedauerlich – könnte man mit seinem Beispiel doch einige Fragen der Repräsentation im Film diskutieren.

Die Indigenen in «Der junge Häuptling Winnetou» sehen aus wie im Karneval.
Bild: Bild: Ascot Elite Entertainment Group

Er stehe prinzipiell für die Meinungsfreiheit ein und verurteile die überall grassierende Cancel Culture, verkündet Christian Jungen, der künstlerische Leiter des Zurich Film Festivals, gerne und bei jeder Gelegenheit. Wer wäre so ignorant, ihm in dieser Sache grundsätzlich zu widersprechen?

Es ist selbstverständlich, dass Kunstwerke jeglicher Art, in diesem Fall Filme, zunächst öffentlich sichtbar gemacht werden müssen, ehe man darüber streiten und diskutieren kann. Es ist ebenso merkwürdig wie mühsam, dass man eine solch basale Erkenntnis im Jahr 2022 überhaupt aufschreiben muss.

Allerdings ist ein freier Zugang zu Filmen längst nicht mehr überall eine Selbstverständlichkeit. So wurde jüngst «Sparta» von Ulrich Seidl beim Toronto Film Festival aus dem Programm genommen – eine fragwürdige Entscheidung. Solange die gegen den Regisseur erhobenen Vorwürfe gegen die Drehbedingungen nicht juristisch aufgeklärt sind, ist eine Ausladung klare Vorverurteilung.

Eine sommerliche Dauererregung

Anders liegt der Fall beim am Zurich Film Festival vertretenen «Der junge Häuptling Winnetou», in dessen Fahrwasser im Sommer ebenfalls eine Kontroverse entbrannt war. Hier ging es zunächst konkret um Begleitmaterialien zum Film, darunter zwei Kinderbücher, die der deutsche Verlag Ravensburger aus seinem Programm nahm. Der richtige Shitstorm auf den Sozialen Medien brach allerdings erst nachträglich aus, wie eine Datenanalyse des Content Marketing Anbieters Scompler zeigte.

Der Film wurde in Deutschland keineswegs gecancelt, sondern läuft dort seit dem 11. August in den Kinos, mässig erfolgreich. Er wurde begleitet von partiell deutlicher Kritik an seiner unzeitgemässen Machart, löste aber selbst keinen wirklichen Skandal aus. Doch das Sommerloch war dank «Winnetou»-Dauererregung gestopft: Selbst deutsche Politiker schalteten sich ein und wehrten sich dagegen, die Bücher ihres Kindheitshelden nicht mehr lesen zu dürfen - was niemand bei klarem Verstand gefordert hatte.

In der folgenden Mediendebatte wurde unter Totschlagworten wie «Woke Wahnsinn» alles unsauber in einen Topf geworfen, worüber man separat und sinnvoll hätte debattieren können: Die nicht erneuerten Lizenzen der alten Winnetou-Filme beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Stereotype und rassistische Darstellungen von Native Americans generell. Oder die ambivalente Rolle des Autors Karl May, der den Wilden Westen nicht aus eigener Anschauung kannte.

Scheut die Schweiz eine deutsche Debatte?

Doch wie sieht es hierzulande mit dem Film aus? Über einem möglichen Schweizer Kinostart von «Der junge Häuptling Winnetou» hängen mehr als nur dicke Fragezeichen. Nach einigen Telefonaten wird klar: So richtig wohl ist kaum einem der Befragten damit, über den Film zu sprechen. Von den Leonine Studios in Deutschland heisst es, man sei für den Schweizer Markt nicht zuständig. Falls Verleiher aus der Schweiz anfragen, könnte es aber durchaus noch einen Kinostart geben.

Vor Wochen war bereits ein Schweizer Kinostart kommuniziert worden, dabei fiel der Name Ascot Elite. Davon distanziert man sich heute beim Zürcher Vertriebsdienst: Man hatte den Film nie im Programm und sei auch jetzt nicht dafür zuständig. Zudem wisse man auch von keinem anderen Verleih, der plane, ihn ins Kino zu bringen.

Die Gründe dafür lägen in einer Vielzahl von Faktoren, darunter auch der Marktlage mit einer Ballung anderer Kinderfilme. Das klingt mehr nach vorauseilendem Gehorsam als nach einer von aussen oktroyierten Cancel Culture, wie sie Christian Jungen beklagt. Scheuen die sonst so debattenoffenen, gelassenen Schweizer eine Debatte, die im Nachbarland teils so hysterisiert geführt wurde?

Ein harmloses und zugleich fragwürdiges Vergnügen

Am ZFF läuft der Film lediglich zweimal öffentlich, eine Pressevorführung oder einen Vorab-Screener für Journalisten gab es nicht. Also begibt man sich klassisch in die gut gefüllte, aber nicht ausverkaufte Nachmittagsvorstellung. Dort, wo Kinder in Popcornhügelchen herumtollen und jedes Mal johlen, wenn auf der Leinwand jemand umkippt, der von einem Betäubungspfeil getroffen wurde, was recht häufig passiert. Und anschliessend stellt man fest: Der Film rechtfertigt keineswegs die Aufregung, doch man könnte ihn anschaulich für eine Debatte um zeitgemässe Repräsentation heranziehen.

Die gradlinig erzählte Geschichte des jungen, eigensinnigen Häuptlingssohns, der sich mit dem weissen Jungen Tom Silver anfreundet und mit seiner Hilfe den Apachenstamm rettet, entspringt mustergültig dem Baukasten des Kinderfilms. Als ein aus der Zeit losgelöstes Abenteuermärchen gesehen, stellt sie ein harmloses Vergnügen dar, garniert mit den üblichen Moralsprüchen: Hör auf dein Herz! Gewalt ist keine Lösung! Zusammen ist man stärker als allein!

Natürlich transportiert das eine schlichte Ideologie, aber Kinderfilme arbeiten allein wegen ihrer Zuschauerschaft oft mit unterkomplexer Weltreduktion und ja, auch mit Klischees. Zur moralischen Verdammnis oder gar Verbannung von den Leinwänden ob rassistischer Darstellung eignet sich dieser «Winnetou» als etwas naives Unterhaltungsprodukt nicht; erst recht nicht wenn man die realpolitische Weltlage betrachtet. Und dennoch lässt sich einiges berechtigt gegen den Film einwenden.

Müssen sämtliche guten Absichten so umgesetzt werden? Muss alles nach Kostüm und Kulisse aussehen? Müssen die «edlen» und «naturverbundenen» Native Americans herumlaufen wie zum Kinderkarneval zurechtgemacht? Muss man die altbekannten Bilder und Formen so passgenau erfüllen, dass man damit fünfzig Jahre hinter die (Film)Geschichte zurückfällt? Und schliesslich, auch hinsichtlich der Besetzung: Muss ein deutscher Blick auf die Welt automatisch so deutsch sein?

«War Pony:» Ein wohltuendes Gegenbeispiel

Es wird ein Wunschtraum bleiben, dass aus solchen rhetorischen Fragen eine andere Debatte als die ewige, längst ermüdete um die Cancel Culture entwachsen würde. In einer solchen könnte man sich Gedanken machen nach möglichen Verantwortlichkeiten gegenüber der Vergangenheit, oder danach, was Repräsentation im Film überhaupt bedeutet. Doch sie wird in der Schweiz zumindest für «Der junge Häuptling Winnetou» alleine schon wegen des unwahrscheinlichen Kinostarts ausbleiben.

Wer wirklich einen aktuellen Einblick in jene Welt werfen mag, die man vor allem ob ihrer immensen Vielfalt nicht leichtfüssig mit dem antiquierten Begriff «Indianer» labeln sollte, sei am ZFF «War Pony» ans Herz gelegt. Im dem Spielfilm, bei dem Gina Gammell und die Elvis-Enkelin Riley Keough Regie führten, werden alltägliche Probleme wie Armut oder Kriminalität im Pine Ridge Reservat der Lakota in South Dakota differenziert und ohne Klischees aufgezeigt – und vor allem mit Beteiligung der Betroffenen umgesetzt. Was für Erwachsene geht, könnte auch für Kinder möglich sein.

«Der junge Häuptling Winnetou»: Läuft am ZFF am Freitag um 13 Uhr 30 im Arena.«War Pony»: Läuft am ZFF am Samstag um 13 Uhr 30 im Kosmos.

Kommentare (0)