Steht im Klappentext, hier erzähle einer von menschlichen Abgründen, so erweist sich die Lektüre in den meisten Fällen dann doch enttäuschend klischeehaft konstruiert. Ganz anders bei Ferdinand von Schirach. Was dieser Schriftsteller, im Erstberuf Strafverteidiger, zu berichten weiss, ist von imposanter Menschenkenntnis und schockierender Einsicht – weil es unserer naiven Gewissheit den Boden unter den Füssen wegzieht. Er weiss nicht nur aus beruflicher Erfahrung, was Menschen einander in Extremsituationen antun. Jeder könne zum Mörder werden, sagte er einmal.
In seinem neuen Buch «Der stille Freund» erweitert er sein Spektrum mit Kurzgeschichten und feuilletonistischen Miniaturen. Es sind nicht mehr nur Mörder vor Gericht, sondern alte Freundinnen, Zufallsbegegnungen im Taxi oder Antihelden aus der Nazizeit, deren abgründige Geschichten er hier erzählt: mal äusserst verknappt, mal mit viel Vorlauf zu Miniromanen ausgebaut. Seine Figuren: der titelgebende, tödlich verunglückte nachdenklich-stille Freund, der sein Gottvertrauen verlor; eine Freundin, deren Ehemann eine äusserst makabre Rache inszeniert; ein gescheiterter Psychotherapeut, der sich schuldig am Tod eines Klienten fühlt. Und wer den Tennisstar Gottfried von Cramm nicht kannte, wird dieses Buch lieben. Cramm bewahrte in der Nazizeit seine Würde.
Ferdinand von Schirach: Der stille Freund. Luchterhand, 173 Seiten.
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