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Montreux Jazz Festival

Erste Sternstunde am Genfersee: Neil Young kam wie ein Hurrikan – die kaputte Herrlichkeit des zornigen, alten Mannes

In Zeiten von KI-Sounds ist Neil Young die Antithese. Hemdsärmelig rockte der Regenmacher in Montreux. Begeisternd und vor allem laut.
Neil Young: hemdsärmelig, ehrlich und authentisch.
Bild: Ueli Frey

Claude Nobs und Montreux schufen sich 1967 ein Musikfestival der Extraklasse, an dem meistens die Sonne scheint. Am Sonntagabend brachte Neil Young, ebenfalls seit 1967 am Musizieren, den ersehnten Regen: Wasser für eine in vieler Hinsicht überhitzte und dürstende Welt, in der Natur und Mensch immer öfter unter der Wärme leiden. Tja, wer wie der kanadische Regenmacher seine Tour «Love Earth» nennt, denkt auch an die graubraun-traurig dreinblickenden Wiesen am Genfersee und an die vielen schönen Blüten an der im Frühling noch prächtigen Blumenweg-Promenade, die ihre heissen Köpfe trist hängen lassen.

Aber: «Hey, hey, my, my, Rock ’n’ Roll can never die»! Nein, der Rock ’n’ Roll wird nicht sterben, wie der 79-jährige Young seit Jahrzehnten eindringlich versichert. Dafür pilgerten seine graumelierten Fans in bunten Pellerinen zu seinem zweistündigen Konzert, das sie happy wie eine nordamerikanische Messe machte. «Singing in the rain» mit ihrem Folk-Rock-Gott war angesagt.

Grosse Liebe zum lauten Lärm

«Ragged Glory» heisst einer von Youngs grossen Songs, kaputte Herrlichkeit, zerrissene Pracht – dafür steht dieser Waldschrat unter den Rockern, der mit zerzauster Mähne und beeindruckendem Backenbart, zeltartigem Holzfällerhemd und abgewetzter Gitarre namens Old Black mächtig auf der schlichten Bühne steht. Und mit seiner grossen Liebe zum lauten Lärm von der Ernte seiner 59 Bühnenjahre singt, in denen er mehr als 400 Songs auf 48 Alben einspielte. «Harvest Moon» ist eine der berührendsten Balladen, in der Youngs Engelsstimme nach einer guten Stunde harter Sounds schön zum Tragen kommt.

5000 Fans erlebten am Sonntagabend eine erste Sternstunde des Montreux Jazz Festivals nach dem opulenten Eröffnungskonzertreigen mit Chaka Khan, 72 zu Ehren von Festival-Doyen Quincy Jones (1933–2024) und dem exaltierten Latin-Party-Abend mit Rapper Trueno aus Argentinien sowie Reggaeton-Star J Balvin aus Kolumbien.

Neil Young indes kam mit kleiner neuer Band, die sich Chrome Hearts, Chromherzen, nennt. Harvest-Moon-Haudegen Spooner Oldham (82, Keys) und Willie-Nelson-Sohn Micah (Gitarre) legten sich unter den Taktgebern Anthony LoGerfo (Drums) und Corey McCormick (Bass) mächtig ins Zeug. Aber nur, wenn es ums Begleiten ging: «Like a Hurricane», mit Youngs Crazy-Horse-Band oft auf 40 Minuten Improvisation ausgedehnt, wird auf knappe sieben Minuten eingedampft, einzig Chef Young tobt sich kurz solo aus.

Dafür sind die Songenden, ähnlich wie Verdi-Schlüsse, oft ein derbes Gefiedel und Soundgewitter, das kaum enden will – eine immer wiederkehrende kathartische Klimax. Young schrieb in seiner Autobiografie: «Musik ist ein Sturm auf die Sinne, Wetter für die Seele, sie ist tiefer als tief, weiter als weit.» Hey, hey, my, my, schrumm, schrumm.

Herrliche Nostalgie

Der Folkrocker, auch «Godfather of Grunge» genannt, demonstrierte seine ganze Bandbreite zwischen zartem Folk und wütendem Rock. Hauptsache hemdsärmelig und ehrlich-authentisch – in Zeiten von AI-generierten Bands wie den nicht mal schlecht klingenden The Velvet Sundown ist das heftig erfrischend. Und herrliche Nostalgie: «Ich kann den Nutzen der Makellosigkeit einfach nicht erkennen», so Althippie Young zu seinem romantischen Kunstverständnis.

«Es geht um das ursprüngliche Gefühl, die Intensität. Wir spielen und spielen einfach nur, bis die Muse in unsere Runde kommt.» Und die erlebte man auch in Montreux. So bleibt Opa Young ewiges Vorbild. Als Nirvana-Sänger Kurt Cobain sich erschoss, zitierte er einen Young-Song: «It’s better to burn out than to fade away». Besser leuchtend verbrennen als langsam verlöschen.

Grace Jones, Diana Ross, Alanis Morissette

Das Montreux Jazz Festival, das heuer zum 59. Mal mit rund 200 Bands über diverse Bühnen geht, wird noch bis zum 19. Juli weiterleuchten. Heuer mit erfreulich vielen weiblichen Stars: Nebst Legenden wie Grace Jones, Diana Ross, Alanis Morissette oder Beth Gibbons treten auch heiss gehandelte Newcomer wie Celeste, Raye, London Grammar oder FKA Twigs auf. Da soll ab Mittwoch wieder die Sonne lachen.

Bis 19. Juli.

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